Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
verloren, und die Übrigen bestellten weniger als zuvor. Carl tat der Vater beinahe leid. Doch dann spürte er die Wut. Er würde in Kopenhagen nicht als ein junger Mann ankommen, der die Zukunft noch vor sich hatte. Er würde am Liegeplatz des Paketboots in Nyhavn am Kai stehen wie ein Dienstbote, und Schuld daran hatte sein Vater.
Trug er den Malkasten, weil er noch immer hoffte? Hätte er auch die Staffelei mitgenommen, wenn es ihm möglich gewesen wäre? Nein, die Zukunft, die ihn erwartete, war ebenso leer wie Hinrichsens Haus, nachdem die Gläubiger es geplündert hatten. Den Anblick und das Gefühl, das ihn dabei ergriffen hatte, konnte er nicht vergessen. Den Malkasten, einst das Versprechen eines Lebens als Künstler, trug er aus Trotz. Er verhielt sich wie ein Kind, das sein liebstes Spielzeug im Arm hält, wenn es zu Hause ausziehen muss. Bei dem Malkasten handelte es sich um eine Kindheitserinnerung, nicht mehr.
Ottensens Manufakturhandel lag in Kopenhagen am Gammel-Strand. Und wenn Carl jeden Morgen den Bürgersteig vor dem Laden fegte, schaute er über den Frederiksholm-Kanal auf Thorvaldsens Museum, das auf der gesamten Länge mit Sonnes Fresken geschmückt war; Arbeiter mit offenstehenden Hemden und nackten Füßen schoben die gewaltigen Marmorskulpturen des weltberühmten Künstlers durch die Stadt. Carl schlief in einer Dachkammer, und bevor er frühmorgens aufstand und die drei Stockwerke hinunterging, um den Laden für die Kunden vorzubereiten, sah er durch das kleine Dachfenster, wie die vorbeisegelnden Wolken sich ihre Farben vom Sonnenaufgang liehen. Dann setzte er sich aufs Bett und holte seinen Skizzenblock heraus.
Es keimte wieder in ihm.
Carl begann, jeden Sonntag ins Schloss Charlottenborg in die Kunstausstellung zu gehen. Lange stand er vor den Leinwänden, aufgesogen von dieser neuen Welt, die sich ihm hier eröffnete und von der er bisher nur einen kleinen Ausschnitt über Hinrichsens Sofa gesehen hatte. Um ihn herum bewegten sich gebildete Menschen, die mit Kennermiene die Gemälde kommentierten. Hier und da schnappte er einen Satz auf. Er hörte Gespräche über eine Kunst, die Volk und Land entdecken wollte, die nationalen Besonderheiten, wobei die Landschaft ein Schlüssel zum dänischen Geist war. Ihm wurde klar, dass sich ihre Spuren kreuzten – seine und die der Künstler. Sie zog es hinaus in die Provinz, aus der er kam, auf ferne Inseln und in unentdeckte Landschaften. Sie sahen die Freundlichkeit der Landschaft, die anmutigen Hügel, die in Wellen verliefen, als wären sie gerade aus dem Meer erstanden und trügen noch immer die Bewegungen des Wassers in sich. Wie die Insel, auf der er seine Kindheit verbracht hatte.
Er dachte an den Sommer, in dem er mit den Jungen aus Marstal herumgezogen war. Hatte er sich damals nicht ähnliche Gedanken gemacht?
Auch am Meer stellten die Künstler ihre Staffeleien auf. Das Meer hatte eine Größe, die der Landschaft fehlte. Gischt, so weit das Auge reichte, oder Ruhe in einer unaussprechlichen Majestät, und über dem Meer der Himmel mit seinen endlosen Variationen der immergleichen Wolkenformen, Zirrus und Kumulus, die er so gut aus Ingemanns Gedichten kannte.
Ihm ging es genau wie den Männern, die für diese Leinwände verantwortlich waren. In der mondhellen Spuknacht in Hinrichsens Haus hatte er gedacht, sein Traum wäre ausgeträumt. Doch er hatte einfach nur alles missverstanden. Er hatte geglaubt, seine Zukunft hinge von einem Wohltäter ab. Er hatte geglaubt, die Erlaubnis seines Vaters wäre notwendig, um weiterzukommen. Aber so war es nicht. Das begriff er jetzt. Die Inspiration musste von innen kommen. Alles hing von ihm selbst ab. Er hatte einmal geglaubt, er würde eine Kompassnadel in sich tragen. Dieser Gedanke kehrte jetzt zurück.
Carl kannte die Begeisterung für die Krümmung eines Blumenstängels, die Ehrfurcht vor einer Wolkenlandschaft, und das war das Entscheidende. Es genügte nicht, die Bilder anderer zu würdigen. Kunstverstand machte niemanden zum Künstler. Die Natur selbst musste für diesen Sog der Sehnsucht sorgen, damit es ungeduldig in der Hand zuckte und ein unsichtbarer Pinsel sich zwischen den Fingern bewegte. Die Landschaft diktierte die Pinselstriche. Die Welt füsterte ihre Geheimnisse in einer Sprache, die andere nicht verstanden.
»Dann ist man ein Künstler.«
Er richtete die Worte an Henrietta. Carl war mit dem strengen Auftrag der Mutter nach Kopenhagen gekommen, die Familie am
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