Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Pappeln vergraben, und eines Tages würde er ihn sicher wieder ausgraben. Möglicherweise lagen Schmuck und Silberzeug darin. Doch das Sofa konnte er nicht in einem Kissenbezug verstecken, das Gemälde von Lundbye an der Wand über dem Sofa nicht vergraben und auch die Brigg Kronprinds Frederik nicht verschwinden lassen. Obwohl er das Schiff, einen Tag, bevor er Konkurs ging, beim Barbier als Sicherheit für ein Darlehen verpfändet hatte, das er nie bekam. Der Barbier wurde zu dreißig Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot verurteilt, und die Brüder Bing aus Hamburg übernahmen die Kronprinds Frederik.
Nicht nur der Barbier landete hinter Gittern. Ein Familienoberhaupt nach dem anderen musste diesen Weg gehen, und in einigen Fällen sogar ihre Ehefrauen. Jetzt gab es keine vornehmen Familien mehr in Ærøskøbing, jetzt gab es nur noch Familien. Hinrichsen hatte sich immer für demokratische Ideen eingesetzt. Es zeigte sich, dass er sie auch praktizierte. Er hatte Arm und Reich gleichermaßen einbezogen, und nun gab es keinen Unterschied mehr.
Hinrichsen wurde zu drei Jahren verurteilt. Damit blieb er, wie stets, der erste Bürger der Stadt.
Hatte sich der Vater für Carl auf etwas eingelassen, von dem er bei all seiner Prinzipienfestigkeit hätte wissen müssen, dass es falsch war? Hatte Johan Arenth Rasmussen seine Ehre aufs Spiel gesetzt, weil er die Zukunft seines Sohnes als Maler sichern wollte?
Carl stellte sich diese Frage und musste nicht lange nach einer Antwort suchen. Er dachte an die vielen Male, bei denen er den Vater zusammen mit Hinrichsen gesehen hatte. Nicht um dem Sohn auf seinem Lebensweg zu helfen, war der Schneider zum Mitwisser einer Gaunerei geworden. Es ging um den Glanz. Es war die Vertraulichkeit mit einem mächtigen Mann. Ihr hatte der Vater nicht widerstehen können. Hinrichsen hatte ihm zugezwinkert, und schon hatte der Schneider seine Unterschrift dort hingesetzt, wohin der Finger des mächtigen Mannes zeigte. Eines Abends saß Carl wie gewöhnlich draußen auf dem Treppenstein. Er ertrug die Atmosphäre im Haus nicht mehr. Am liebsten hätte er sich wie ein obdachloser Vagabund zum Schlafen auf die Felder außerhalb der Stadt gelegt, wenn es nicht bereits Herbst und somit zu kalt gewesen wäre. Die Tür des Nachbarhauses klapperte im Wind, und er blickte auf. Gläubiger hatten sich tagsüber in Hinrichsens Haus aufgehalten und offenbar vergessen abzuschließen. Von einer plötzlichen Eingebung gepackt, ging Carl durch die offene Tür in das verlassene Haus. Er sah sofort, dass sein Porträt von Hinrichsen im Flur verschwunden war. Hatten die Gläubiger bloß alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war? Oder hatten sie seine Zeichnung ausgewählt, weil sie meinten, sie könnte Geld bringen? Sollte er so seine erste Anerkennung bekommen? Als Teil einer Konkursmasse?
In der ersten Etage ging er von einem Raum zum anderen. Der Mond erleuchtete die leeren Zimmer mit seinem blauen Schein. Carl hatte damit gerechnet, das Haus leer vorzufinden, trotzdem überraschte ihn die Kahlheit der Räume. Er hatte davon geträumt, dass seine Gemälde an diesen Wänden hängen würden. In seinem kindlichen Ehrgeiz hatte er sich vorgestellt, dass die Eroberung von Hinrichsens Wänden der Höhepunkt seiner Karriere als Maler werden würde.
Jetzt sah er in den kahlen Wänden ein Bild der vollständigen Leere, die ihn erwartete.
E r musste die Staffelei zu Hause lassen, als er mit dem Paketboot nach Kopenhagen aufbrach. Der Vater wollte die Fracht nicht bezahlen, und um sich die Staffelei über die Schulter zu hängen, war sie zu groß und zu schwer. Außerdem hing dort bereits der Malkasten mit der Palette, den Ölfarben und den Pinseln.
»Wo willst du damit hin?«, wollte sein Vater wissen und wies auf den Malkasten. Er klang verärgert, als würde ihm sein persönliches Eigentum genommen.
»Vielleicht willst du es ja unterm Apfelbaum vergraben?«
Carl hatte begonnen zu widersprechen. Er hatte das Untertänige in seinem Vater gesehen. Er hatte gesehen, wie sein Rücken mit jeder Verbeugung vor seinen vornehmen Kunden krummer wurde, bis es aussah, als hätte er einen unsichtbaren Buckel.
Der Vater kratzte sich nervös an der Warze unter dem rechten Nasenloch. Er hatte vergessen, den Haarkranz zu stutzen. Der Riss in seinem Gesicht öffnete sich.
»Du hast mir nicht frech daherzukommen«, sagte er mit kraftloser Stimme.
Sein Gesicht war erloschen. Er hatte seinen besten Kunden
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