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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Solitudevej zu besuchen. Er hatte es pfichtschuldigst erledigt, voller Widerwillen. Er war jung, er wollte sich seine eigene Welt aufbauen, sich nicht an eine alte binden, und die Sorgen anderer interessierten ihn nicht. Sein Onkel, ein Schreinermeister, war vor einigen Jahren gestorben, und die Tante hatte mit ihren drei Töchtern ein Mietshaus bezogen, das der Schreiner als Witwenwohnung in einem der neuen Viertel hatte bauen lassen, die außerhalb der Stadtwälle entstanden. Den Verlust des Ehemannes hatte die Tante nie verwunden. Ihre älteste Tochter, Dorothea, litt an einem Buckel und lebte in einer Welt voller Salben und Hausmittel, welche die Schmerzen ihres missgebildeten Körpers lindern sollten. Und Henrietta, die so alt war wie er, musste sich anstelle der trauernden Mutter um die sechs Jahre jüngere Anna Egidia kümmern. Soviel also wusste er – und es reizte ihn nicht. Er ging nur dorthin, um hinterher seiner Mutter berichten zu können, dass er den Pfichtbesuch absolviert hatte.
    Henrietta öffnete die Tür.
    »Du bist Carl«, sagte sie nur.
    Dann ließ sie die Hand mit einer Bewegung über seine Wange gleiten, die mütterlich zärtlich und prüfend zugleich war, als würde sie Maß nehmen. Sie hatte kobaltblaue Augen. Diese Farbe hatte er noch nie in einem Gesicht gesehen; einen Moment lang war er verwirrt.
    »Du bist hübsch«, sagte sie.
    Er wusste sofort, dass sie nicht seine Gesichtszüge meinte, sondern etwas, das sie in ihm sah und von dem er nicht wusste, was es sein könnte. Und er wusste genau, dass er unter ihrem Blick aufblühen würde.
    Vom ersten Augenblick an entstand eine merkwürdige Weisheit zwischen ihnen. Es ging nicht um Liebe. Er fühlte sich nackt, als sie ihn so ansah, aber das war kein unangenehmes Gefühl. Eher glich es einem Sonnenbad. Und da sie ohnehin alles über ihn wusste, erzählte er ihr auch alles. Sie hatte sowieso längst alles gesehen. Stets hatte er seine Gedanken für sich behalten. Nun teilte er sie mit ihr, und erst dann schienen sie real zu werden.
    Sie blickte ihn aus ihren kobaltblauen Augen an, und er hatte das Gefühl, als entzündete ihr Blick ein Feuer in ihm, eine Flamme, die zu gleichen Teilen aus Poesie und Ehrgeiz bestand.
    Doch Zeit für die Kunst hatte er nur an Sonntagen.
    Carl sah Eckersbergs Bild einer amerikanischen Kriegsbrigg, die vor Anker lag. Die Segel wurden getrocknet, der Rumpf spiegelte sich im windstillen Wasser, und er, der an einem Hafen aufgewachsen war, der selbst so oft die reinen Linien eines Schiffes in seinem Skizzenblock festgehalten hatte, nahm plötzlich zum ersten Mal ein Schiff wahr.
    Er sah Emanuel Larsens Gemälde von einem Morgen an der isländischen Küste. Weit entfernt lag eine Brigg, und hinter dem Schiff erhob sich ein gewaltiger schneebedeckter Berg, vielleicht handelte es sich um einen Gletscher. Hinter dem Berg verbarg sich die aufgehende Sonne. Ein blassgelber Ton meldete sich am Morgenhimmel und löste die tiefhängenden Stratuswolken auf, die nicht viel mehr waren als Nebel über dem Wasser. Am dunklen Strand im Vordergrund erregte ein Stück Treibholz Carls Aufmerksamkeit. Als er näher herantrat, entpuppte es sich als Wrackteil. Der letzte Rest eines Schiffs, das wie die Brigg einmal stolz im Wasser gelegen hatte. Ein zerbrochener Mast. Zeugnis des schrecklichen Meeres und jener gewaltigen Kräfte, die sich an diesem windstillen Morgen so verräterisch unter der ruhigen Wasseroberfäche verbargen. Das Bild saugte ihn ein.
    Nicht nur der Schlund, der sich mitten in dieser friedlichen Morgenstimmung öffnete, zog ihn an. Auch nicht, dass der Betrachter am Rand eines Abgrunds stand, wenn er den Sinn des Gemäldes einmal erfasst hatte. Es war mehr als das. Emanuel Larsen war bis nach Island gereist, um zu malen. Nach Italien hatte ein Künstler zu reisen, wenn es ihn ins Ausland zog. Emanuel Larsen hatte die entgegengesetzte Richtung gewählt, nach Norden, und mit seinem Pinsel fing er eine Welt ein, die wenige vor ihm beschrieben hatten. Er war ein Künstler und gleichzeitig ein Entdeckungsreisender. Die Maler fingen an, Kopenhagen zu verlassen. Sie kamen bis Jütland oder bis an die Nordsee. Doch sie hielt es nicht dort. Sie reisten immer weiter. Emanuel Larsen hatte seine Staffelei an den äußersten Rand der bekannten Welt gestellt.
    Hinter Island lag Grönland. Und hinter Grönland die Polarkappe.
    Woher stammte dieser zerbrochene Mast? Von einem Schiffbruch an einem unbekannten Ort hinter dem Horizont,

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