Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
hatte sofort gespürt, was an Hansens Komposition nicht stimmte. Nicht nur, dass der Raum mit Menschen überfüllt war. Es gab keinerlei dynamische Bewegung in der Gruppe. Eher wirkten sie in ihrer strengen Feierlichkeit steif wie Skulpturen. Aber der wahre Fehler lag im Raum selbst, dem mit seiner Enge und der niedrigen Decke jegliche Größe fehlte. Nein, über der Szenerie hätte sich die mächtige Kuppel des Himmels wölben müssen.
Carl wurde durch das Gespräch und den direkten Ton seines Gegenübers ermuntert. Das Untertänige verschwand und er vertrat seine Ansichten mit einer Unbefangenheit, die er sich sonst nur bei Henrietta erlaubte.
Holm nickte anerkennend. »Ich höre, dass Sie den Blick haben.«
Sie unterhielten sich lange. Carl redete mit wachsender Selbstsicherheit. In der aktuellen Diskussion über Kunst kannte er sich aus. Er war kein unwissender Bursche vom Land. Er kam zwar aus der Provinz, aber gerade das erwies sich als großer Vorteil. Er stammte aus einem der Orte, in die die anderen reisten. Das, was sie auf ihren Reisen entdecken wollten, kannte er bereits.
Er erzählte Holm von seinem Erlebnis vor dem Gemälde Emanuel Larsens.
»Sie müssen reisen«, erklärte Holm. »Und dann mögen Sie einen Ort finden, der zu Ihnen gehört. Es ist nicht gesagt, dass es die Insel Ihrer Kindheit sein muss.«
Er ließ sich von Holm unterrichten, und Holm nahm ihn mit zu dem Maler Johan Didrik Frisch. Von ihm lernte er die Technik der Ölmalerei, ein großer Schritt. Nun trat er ernsthaft in die Welt der Farben ein. Frisch malte besonders gern Tiere. Er nahm Carl häufig mit in den Dyrehave, um ihm die Rudel umherstreifender Hirsche zu zeigen, die nach jahrhundertelangem Umgang mit den Menschen beinahe zahm zu sein schienen. Ihre Scheu vor Menschen erwachte erst, wenn man ihnen zu nah kam. Holm hatte davon gesprochen, dass Carl seinen Ort finden müsse. Frisch hatte stattdessen ein Tier gefunden. Für ihn existierte nur der stolze Kronenhirsch, wenn er in der Brunft des Herbstes seine Kraft vor einem Rudel Hirschkühe zur Schau stellte und sein herausforderndes Röhren über den Wald schallte – wie das Echo einer ungezähmten Natur, die längst aus Dänemark verschwunden war.
Bei Johan Didrik Frisch handelte es sich beileibe nicht um einen Kronenhirsch. Er war ein kleiner, dünnhaariger Mann, der an chronischer Erkältung litt und sich unabhängig von der Jahreszeit vor dem Aufbruch in den Dyrehave in einen Mantel und einen Wollschal wickelte, den er vor seine unablässig tropfende Nase band. Hinter den schützenden Wollschichten holte er Atem mit dem Geräusch eines Seehunds, der die Wasseroberfäche durchbrach.
Niesend näherte er sich dem Hirschrudel. Wachsam drehten die Hirschkühe die Ohren, ihre Beine bebten, als wären sie bereit, auf der Stelle davonzulaufen, doch der Kronenhirsch stand ungerührt unter ihnen, also blieben sie.
Carl spürte durchaus eine gewisse Faszination, Tiermaler wollte er dennoch nicht werden. Das wusste er sofort. Doch ihm ging es um die Technik, und in ihre Geheimnisse führte Frisch ihn ein. Außerdem sah er dieses wunderbare Lichtspiel, wenn die Sonne durch das Laub fiel und auf den Waldboden mit seinem abwechslungsreichen Teppich aus Blumen und welken Blättern traf. Carl konnte sich in solchen Motiven verlieren. Er konnte auf das Laub einer frisch ausgeschlagenen Buche blicken und die ganze Welt sehen. Das sollte ein Maler erfassen, die wunderbare Vielfalt und Einheit der Natur in ein und demselben Pinselstrich.
Er besuchte Frisch und Holm und erlernte die Grundlagen: Neapelgelb, Ocker und gebranntes Siena bildeten die Grundskala der Palette. Darüber hinaus gab es Weiß und Schwarz. Sie hatten für die Abtönungen zu sorgen, wenn sie mit anderen Farben vermischt wurden. Mit Zinnoberrot galt es vorsichtig umzugehen. Pariserblau wurde meist für den Hintergrund verwendet. Helle Partien mussten mit fetter Farbe und einem spitzen Pinsel aufgetragen werden, die Schatten mit stark verdünnter Lasur und einem Fächerpinsel. Am wichtigsten waren die Tönungen – Zwischentöne, Schattentöne, Lichttöne, das Zusammentreffen der Farben. Die Seele des Bildes bestand aus dem Zusammentreffen der Farben, und er lernte rasch, dass die Seele der dänischen Landschaft ebenfalls daraus bestand. Keine reinen Farben, keine aufdringliche Farbwahl, stattdessen die feine ausgleichende Arbeit des Fächerpinsels. Darin lag nicht nur das Geheimnis des dänischen, sondern auch
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