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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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von einem unbeschriebenen Drama mit dem Versprechen auf ein anderes Licht, auf eine Palette, die man bisher nicht gesehen hatte. Der Mast kam ihm vor wie der Sendbote einer unendlichen Vielfalt neuer Motive.
    Ihm fehlten die Worte. Aber das tat nichts zur Sache. Wofür hatte er schließlich einen Pinsel?
     
    Er erklärte Henrietta, dass er eines Tages einen Eisberg malen wollte, der auf dem Wasser schwamm, schöner als jedes Schloss. Der Eisberg würde am Gipfel halb geschmolzen sein und ein schäumender Strom aus Schneewasser mit der Farbenpracht von tausend Regenbogen an ihm herabstürzen. Carl träumte von Grönland. Der Winter war eine lange Nacht, dennoch hatten die Tage ihr eigenes Licht, mit sternklaren Vormittagen und mondhellen Nachmittagen. Und im Sommer glühte die Sonne vierundzwanzig Stunden am Tag.
    Seine Worte klangen feierlich.
    »Wie schön du es beschreibst«, sagte Henrietta.
    Und plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, sie bekam dieses spöttische Glitzern in die Augen, das ihm das Gefühl vermittelte, als spiele sie bisweilen auch die Rolle seiner großen Schwester.
    »Aber ich glaube, ich habe das schon mal gehört.«
    Carl sah zu Boden und errötete. Dann gestand er. Er hatte die Sätze bei Ingemann gelesen, in dem Roman Kunuk und Naja oder Die Grönländer, und die Beschreibung auswendig gelernt.
    »Ich hoffe sehr, dass du nicht so malst, wie du liest.«
    Henrietta zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn tadelnd an. Ihre Stimme klang noch immer spöttisch.
    »Was meinst du?«
    »Dass du dir die Worte anderer zu eigen machst. Oder die Pinselstriche anderer. Dass du imitierst.«
    Sie sah, dass er gekränkt war.
    »Ich mach doch nur Spaß«, schnell strich sie ihm über die Wange, wie sie es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte.
    »Imitieren? Das würde ich nie tun. Ich käme nicht mal auf die Idee.«
    Sein Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen. Er spürte, dass er ein Gelübde ablegte, nicht nur ihr gegenüber, sondern auch sich selbst.
    »Du solltest nach Grönland reisen«, meinte Henrietta.
    Es klang so wirklich aus ihrem Mund. Es handelte sich nicht mehr nur um einen Traum. Er wusste jetzt, was er wollte. Und es gab jemanden, der ihm zur Seite stand. Das war das entscheidend Neue in seinem Leben.
    Erwachsen war er noch nicht. Ihm wuchs nicht einmal ein Bart. Er war nur ein Junge – aber auch ein Eroberer. Jedes Jahr wurde er einige Zentimeter größer. Unrast tobte in seinem Körper. Jetzt, da er mehr und mehr erreichte, warum nicht alles?
    Die Reise, die in Marstal endete, hatte begonnen.
     
E in kleiner Birkenzeisig landete gegen Abend an Deck. Carl war der Einzige, der ihn bemerkte.
    Die Sonne stand noch immer hoch. Sie segelten in nördliche Richtung, und bald schon würde sie nicht mehr hinter dem Horizont untergehen. Die Nacht würde verschwinden und ewiger Tag am Himmel herrschen.
    Dieselbe Sonne hatte damals für ihn geschienen, als er vor über zwanzig Jahren zu seiner ersten Reise nach Grönland aufgebrochen war. Es war die Sonne der Jugend. Die Kraftquelle seiner Inspiration.
    Jetzt sollte sie ihm wieder scheinen.
    Vor vier Wochen hatten sie den Leuchtturm von Skagen passiert. Einen Monat waren sie schon unterwegs. Die Peru befand sich auf dem 57. Breitengrad, noch immer im Atlantik, und es konnte noch ein paar Wochen dauern, bevor Grönland in Sicht kam.
    Eine viel zu lange Distanz für einen kleinen Vogel; es mussten wohl eher der Wind als seine zerzausten Flügel gewesen sein, die ihn so weit getragen hatten.
    Am Abend zuvor war Sturm aufgekommen, der in den Morgenstunden allerdings abfaute. Die Bramsegel, den Innenklüver und das Briggsegel hatte man eingeholt. Nun wurden sie zusammen mit den Toppsegeln wieder gesetzt.
    Carl hob den Vogel auf und hielt ihn in der Hand. Er spürte das Herz unter dem Federkleid. Es schlug wild und erschrocken, und doch schien seine Botschaft so klar wie ein Telegraf, der seinen Morsecode eintickerte. Das kleine Herz war unter der Anstrengung des Fluges über das endlose Meer beinahe zersprungen.
    Nun bat es um Gnade.
    Er holte einen Strohschuh aus der Kajüte und bröselte ein paar Brotkrumen hinein.
    »Das hast du wohl nicht erwartet«, sagte er zu dem Vogel, dessen Herz weiterhin panisch schlug. »Hier kannst du die Nacht trocken und warm verbringen, mein kleiner Birkenzeisig.«
    Den Strohschuh stellte er aufs Deckhaus.
     
    Am nächsten Morgen war der Vogel verschwunden.
    Sollte er allein davongefogen sein, so

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