Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
erschöpft, wie er war? Er konnte es sich kaum vorstellen. Carl sah Kapitän Thomsen vorbeigehen. Würde er Verständnis für die Leiden eines kleinen Vogels aufbringen? Nein, vermutlich würde er bloß den Kopf schütteln über solche Kleinmädchenpossen wie das Bauen eines Nests in einem Strohschuh. Wahrscheinlich hatte es sich so abgespielt: Man hatte den Vogel auf Deck ausgesetzt, dann war er über Bord gespült worden und ertrunken.
Er ging in die Kajüte und setzte sich, um weiter an dem Brief für die Kinder zu schreiben, den er am Vorabend begonnen hatte. Gut gelaunt hatte er das Auftauchen des vom Wind durchgeschüttelten Birkenzeisigs beschrieben. Er hatte gedacht, es wäre eine Geschichte, mit der er die Kleinsten erheitern konnte. Nun teilte er ihnen knapp das Ende des Vogels mit. Er ergänzte noch, dass die Schwachen in der Welt untergehen müssen, damit die Starken in ihrem Siegesbewusstsein schwelgen und die Süße der Macht genießen können. Ihm kamen die Worte spontan in den Sinn, und doch überfutete ihn eine große Bitterkeit, als er sie niederschrieb.
Mit einer fröstelnden Bewegung zog er den Mantel aus Hundefell um sich zusammen. Mühsam kletterte er in die Koje, obwohl es mitten am Tag war und man noch nicht zu Mittag gegessen hatte. Er spürte, wie die Schwermut zurückkehrte.
Der Vogel war ihm wie ein Vorbote erschienen. Stattdessen war der kleine Birkenzeisig eine Warnung gewesen.
E ines Sonntagnachmittags legte sich eine Hand auf seine Schulter, und noch viele Jahre später spürte er diesen leichten, vertraulichen Druck.
Er hatte am Kai von Nyhavn gesessen und die vertäuten Schiffe skizziert. Er zeichnete aus Vergnügen und zur Übung. Die Hand musste beschäftigt bleiben. Lange war es nicht her, dass er vor dem Gemälde Emanuel Larsens seine Berufung erkannt hatte. In seiner unteren Gesichtshälfte begann allmählich ein Bart zu sprießen. Noch hatten die Stoppel einen gewissen Abstand zueinander, und doch konnte man es bereits sehen – Alter, Erfahrung, ein Schatten, der seine weichen Züge markanter werden ließ. Er spiegelte sich andächtig in jeder Fensterscheibe, an der er vorbeiging.
Henrietta und er waren gleichaltrig, aber sie war ihm stets reifer erschienen. Nun wurde er erwachsen und ihr ebenbürtig.
Er wusste, was er wollte. Er hatte sich für einen Kurs entschieden; noch erging es ihm allerdings wie einem Segel ohne Wind. Die praktischen Möglichkeiten fehlten. Noch war er ein Sonntagsmaler.
»Sie haben ja Talent«, sagte eine Stimme.
Carl blickte auf.
Ein groß gewachsener Mann in einem sandfarbenen Sommermantel betrachtete ihn mit einem freundlichen Lächeln. Sein Gesicht verbarg der Schatten einer Strohhutkrempe, umrahmt wurde es von einem dichten, gepfegten Bart. Der Mann gab Carl die Hand und stellte sich vor. Carl verbeugte sich tief. Der Schneidersohn aus Ærøskøbing steckte noch in ihm. Er spürte, dass seine Höfichkeit zu gleichen Teilen aus Unbeholfenheit und furchtsamer Unterwürfigkeit bestand. Aber sein Gegenüber hatte seinen Skizzenblock im Blick, nicht seine Erziehung, er hatte etwas entdeckt. Nur war Hans Holm kein Maler, sondern Architekt.
»Doch, Talent haben Sie gewiss«, wiederholte er.
Carl verbeugte sich erneut, ungefähr so, wie er sich in seiner Kindheit vor Pastor Fabricius nach dem sonntäglichen Gottesdienst verbeugt hatte. Holm bat, den Skizzenblock sehen zu dürfen. Carl stand daneben und wusste nicht, wohin er seinen Blick wenden sollte.
»Ihre Technik ist noch ein wenig mangelhaft. Und die Geheimnisse der Perspektivlehre sind Ihnen offenbar noch nicht ganz vertraut. Aber daran kann man ja arbeiten.«
Holm lud ihn zu einem Spaziergang zur Langelinie ein, während er mit ihm sprach wie mit einem Gleichgestellten. Sie diskutierten über Høyen, der bereits vor einem Jahr in einem Vortrag die Künstler aufgefordert hatte, aufs Land zu gehen und das Leben des Volkes zu schildern. Die Ideen des Kritikers hatten Schule gemacht, allerdings nicht sein Vorschlag, das Volk durch eine neue Form der Historienmalerei zu erziehen. Holm hatte erst kürzlich eine Ausstellung besucht und sich Constantin Hansens Gemälde von Ägirs Trinkgelage angesehen.
»Nein, die ursprünglichen Eigenarten des dänischen Volkes wiederzufinden, wie Høyen es fordert, gelingt den Malern gewiss nicht. Heutzutage steckt nicht mehr viel von Odin oder Thor in den Dänen«, lachte er.
Auch Carl hatte das Bild gesehen und war wie Holm enttäuscht gewesen. Er
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