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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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begann zu schwanken. Dabei hielt sie die Hände auf dem Rücken. Unvermittelt drehte sie sich auf dem Absatz um und ging aus der Tür, die sie hinter sich offen stehen ließ. Er hörte sie die Treppe hinunterlaufen.
    Carl blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte gehofft, dass sie seinen Wunsch, zu gehen, überhören und ihn stattdessen umarmen, ja, vielleicht sogar küssen würde. Er sehnte sich so sehr danach. Stattdessen ging sie und lieferte ihm den Beweis, dass sie nicht stark genug war. Er beschloss, sie niemals wiederzusehen. Am nächsten Tag stand ein Korb vor seiner Kammer. Im Korb lagen ein frisch gebackenes Brot, eine Wurst und Aufschnitt von einer Lammkeule. Er trug den Korb ins Zimmer und fiel sofort darüber her. Während des Essens schämte er sich. Er wusste genau, das Essen kam von Henrietta. Aber er war so hungrig. Er aß, bis nichts mehr übrig war, doch sein praller Bauch besänftigte seine Ansicht über sie nicht.
     
    Er erschien nicht mehr zum Unterricht bei Frisch. Sein Lehrmeister ließ einen Boten nach ihm senden; der Bote kam mit dem Bescheid, dass keinerlei Entschuldigung akzeptiert werde, es sei denn, er liege auf dem Sterbebett. Widerwillig erschien er. Im Atelier erwartete ihn eine Mahlzeit, Brot und Wein. Frisch erwähnte das Essen mit keinem Wort. Er begann sofort mit seinem Lebensevangelium, den röhrenden Kronenhirschen und ihren erhobenen Geweihen.
    Musste man jeden Tag essen? Wie viele Tage kam ein Mensch aus, ohne zu essen? Diese dumme Frage wurde ihm wichtiger als die ganze Debatte um das Ziel der Kunst. Zu Frisch kam er dienstags und donnerstags, zu Holm am Sonntag. Waren drei Mahlzeiten in der Woche ausreichend? Um Hilfe bitten wollte er nicht. Sein Wohltäter tat bereits genug. Was war das Ganze wert, wenn er selbst nicht zurechtkam?
    Er hustete hohl in seinen zerschlissenen Mantel, wenn er sich gegen einen Regenschauer stemmte. Er schlief in seinen Kleidern. Er zog sich nicht mehr aus. Die Kleider wurden zu seiner zweiten Haut. Er versuchte nicht einmal mehr, sich in seinen Sachen zu verstecken. Bei seiner verdreckten Kleidung handelte es sich ja um ein Signal: Hier kam ein mittelloser Mann, hier kam der Abschaum. Für den Armen gab es kein Versteck.
     
    In seiner Not suchte er Ottensen auf. Er bat nicht darum, seinen Lehrplatz zurückzubekommen. Das wäre einer Kapitulation gleichgekommen und so tief war er noch nicht gesunken, jedenfalls nicht innerlich, obwohl sein Aussehen von nichts anderem als der Niederlage berichtete. Beharrlichkeit und Scham fochten eine tägliche Schlacht um ihn aus. Beharrlichkeit bedeutet, dass man durchhält, aber nicht weiß, warum, und genau so erging es ihm. Er lebte für die Kunst, aber er praktizierte sie nicht. Wenn man sich nur von dünner Luft ernähren kann, bleibt für die Kunst keine Kraft. Die Seele fordert ein warmes Bett, Brot, Essen, Freundlichkeit und Wein. Sie ist eine empfindliche Größe. Misserfolg bringt sie kaum zum Blühen. Sie ist ein Talglicht, das vom Durchzug ausgeblasen wird, kein loderndes Feuer, das sogar von einem drohenden Sturm zehrt. Wegen seiner Seele ging er zu Ottensen. Aber aufgrund seines Stolzes bat er nicht um eine feste Anstellung.
    »Eine kleine Beschäftigung«, sagte er, »das ist alles, was ich brauche, ich bin ja eigentlich Künstler.«
    Er hätte Ottensen auch ein Gemälde anbieten und einen vernünftigen Preis dafür verlangen können; aber dieser Gedanke kam ihm nicht. Er sah sich als Künstler, der die Menschheit veredeln und sie lehren wollte, das Schöne zu sehen. Nie hatte er erwogen, dass die Veredelung der Menschheit auch das tägliche Brot liefern konnte. Im Übrigen brachte er auf der Leinwand nichts anderes als technische Übungen zustande. Er war bei weitem kein fertiger Künstler.
    Ottensen starrte ihn an. Er dachte, Carl wäre zu Hause bei seiner Familie auf Ærø. Stattdessen lief er in der Hauptstadt herum und sah aus wie ein Landstreicher. Ottensen verurteilte ihn nicht, doch Carl sah das Mitgefühl in seinem Blick, und das schmerzte mehr als jedes harte Wort.
    Ottensen erkundigte sich nach der Familie auf Ærø.
    »Es geht ihnen gut«, antwortete Carl in einem höfichen, aber gleichgültigen Ton.
    Ottensen stellte keine weiteren Fragen.
    Im Übrigen konnte von einer Neueinstellung Carls keine Rede sein.
    »Präsentabel bist du keinesfalls. So wie du aussiehst, kannst du nicht hinter einem Ladentisch stehen, und das hattest du doch wohl im Sinn. Sieh zu, dass du dein Leben in den

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