Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Griff bekommst.«
Ottensen legte die Hände auf den Rücken und schaute grübelnd zu Boden.
»Eine kleine Beschäftigung, hm«, brummte er und nagte an seinem Schnurrbart. »Ich habe eine Bestellung für Mehlsäcke, die du nähen kannst.«
Carl erhielt Sackleinen und Stopfnadel und nähte Säcke im Tempel des Geistes, der seine kleine Kammer hatte werden sollen. Sonderlich geschickt stellten sich seine Hände mit der großen Stopfnadel allerdings nicht an, ständig stach er sich. Und das grobe Sackleinen riss Schrunden in seine empfindliche Haut, sodass er den Pinsel nicht halten konnte, wenn er endlich Pause machte.
Eines Tages saß er an den Säcken und lutschte das Blut von seinen durchstochenen Fingern, als die Tür aufging und Henrietta eintrat. In einem rauschend großen Krinolinenkleid, das die ganze Kammer ausfüllte, glitt sie über den Boden. Ihre Füße schienen die Dielen nicht zu berühren. Sie beugte sich hinunter zu ihm. Das volle Haar fiel ihr locker über die Schultern, beide wurden von dem dichten Vorhang verdeckt. Sie nahm seine Hand und führte den verletzten Finger an ihren Mund, während sie ihm mit einem spöttischen Blick in die Augen sah, der ihm, wie bei ihrer ersten Begegnung, das Gefühl gab, nackt in der Sonne zu baden.
Er griff nach ihr und fasste in die Luft. Sie war nicht da. Er hatte gedöst und geträumt. Verwirrt rieb er sich die Augen.
»Carl«, sagte jemand.
Er blickte auf. Vor ihm stand Anna Egidia, Henriettas kleine Schwester. Sie hatte ihren Wintermantel an und eine erwachsene Miene aufgesetzt.
»Wir verstehen nicht, wo du bleibst«, sagte sie. »Mutter sagt, du sollst zum Essen zu uns kommen. Aber du beantwortest nicht einmal Henriettas Briefe, und nun glaubt sie, dass du dir nichts mehr aus ihr machst. Also traut sie sich auch nicht zu kommen.«
Sie sah sich in der Kammer um.
»Mein Gott, wie sieht’s denn hier aus.«
Er wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht, als wollte er eine lästige Erscheinung davonjagen.
»Geh weg«, sagte er. »Verschwinde!«
Seine Stimme war belegt, als wäre er aus seinem Traum noch nicht richtig erwacht.
Die Kleine ging im Zimmer herum, hob demonstrativ hier und da etwas auf. Sie wollte in seiner Unordnung aufräumen.
»Geh heim zu deiner Mutter.«
Etwas Bittendes lag in seiner Stimme. Er wollte sie hier nicht haben. Obwohl sie doch erst zwölf Jahre alt war, sollte nicht einmal sie ihn so sehen.
Anna Egidia drehte sich um und schaute ihm eindringlich in die Augen. Er wusste nicht, was er in ihrem Blick sah. Mitleid oder etwas anderes? Richtete sie über ihn?
»Du bist gewachsen«, sagte er.
Er stand auf, um zur Tür zu gehen und sie hinauszulassen.
Sie blieb im Türrahmen stehen.
»Soll ich Henrietta denn gar nicht grüßen?«, fragte sie.
Er biss sich auf die Unterlippe und schlug verlegen den Blick nieder.
Die Säcke verhalfen ihm zu einem Brot und einer Tasse Tee am Tag. Er bekam Farbe in die Wangen, aber nicht auf die Leinwand. Er musste versuchen, sich in den Unterrichtsstunden bei Frisch zu entfalten. Zu Hause gelang ihm nichts.
Von Henrietta kamen Briefe. Er öffnete sie nicht. Er wagte es nicht. Vielleicht enthielten sie einen Abschiedsgruß.
Der Sommer kam. Sein Wohltäter Holm zog aufs Land. Es gab keine Säcke mehr für Ottensen zu nähen. Mit dem Brot und den drei wöchentlichen Mahlzeiten war es vorbei. Die Kopenhagener holten ihre hellen Sommerkleider aus den Schränken und übertönten mit ihren gut gelaunten Stimmen den Hufschlag der Pferde auf dem Pfaster, während er sich wie ein Schatten unter ihnen bewegte und hungerte. Er entschloss sich, nach Hause, nach Ærøskøbing, zu reisen. Er hatte nicht lange überlegen müssen. Sein Bauch hatte die Wahl für ihn getroffen. Er wollte heim zu seiner Mutter und sich aufpäppeln lassen.
Carl saß am Kai von Nyhavn. Hier lagen die Schiffe mit ihren Versprechen auf neue Horizonte, auf eine Reise zu Emanuel Larsens isländischem Strand und noch weiter entfernten Orten. Hinter den Schiffsmasten erhob sich Charlottenborgs rotes Backsteingebäude, in dem die Akademie ihren Sitz hatte. Dort lagen die großen Säle, in denen die Künstler ihre Werke ausstellten. Dort war sein Traum, den er sich so kläglich ansah, seine Zukunft, auf deren Stufe er wie ein Obdachloser saß. Ihm fehlten die Mittel, um hineinzukommen. So nah schien Charlottenborg und doch so unendlich fern.
In diesem Augenblick legte der Schoner Anne Cathrine aus Marstal am Kai an.
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