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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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so überwältigend, dass es weitergehende Handlungen eher lähmte als beförderte. Eine Weile standen sie da, die Lippen willenlos aufeinandergepresst. Mehr geschah nicht. Es lag nicht allein daran, dass sie in der Technik des Küssens unerfahren waren. In ihrem Leben hatte es so wenige physische Berührungen gegeben, dass allein das Gefühl der nachgiebigen und ein wenig feuchten Lippen des anderen eine vollkommen neue Welt eröffnete; so reich an Reizen, Hingabe und Zärtlichkeit, dass sie mehr nicht in sich aufnehmen konnten und daher auch keinen Grund verspürten weiterzugehen. Als sie endlich voneinander ließen, atmeten beide schwer.
    »Sind wir jetzt verliebt?«
    Carl bereute sofort, dass er gefragt hatte. Einen Moment lang war er Henrietta ebenbürtig gewesen, aber nun klang er wieder wie ihr kleiner Bruder.
    Henrietta fand sofort zu sich zurück.
    »Wir sind Vetter und Cousine«, erwiderte sie. »Und das werden wir immer sein.«
    Ihre Antwort enttäuschte Carl nicht. Schließlich lebten sie in einer seltsamen Mischung als Beinahe-Geschwister und Kameraden, und irgendetwas in ihm zögerte, dieser Liste auch noch das schwierige Rollenfach der Liebenden hinzuzufügen. Er konzentrierte sich darauf, dass Henrietta das Wort ›immer‹ benutzt hatte. Ihm war es egal, was sie waren, Hauptsache, sie waren zusammen.
     
    Carl konnte sich nun mit ganzer Kraft seinen Studien hingeben. Holm bezahlte weiterhin den Unterricht bei Frisch und streckte ihm hin und wieder einen Extrabetrag vor.
    »Wir müssen dir ein Stipendium in der Kunstakademie verschaffen«, sagte er. »Aber das wird dauern. Du musst so lange durchhalten.«
    Das erwies sich als Geduldsprobe. Wenn ihm jemand erzählt hätte, dass Kunst ein Kampf wäre, hätte er in erster Linie an einen geistigen Kampf gedacht. Jetzt begriff er, dass seine Physis auf die Probe gestellt wurde. Wie viel hielt er aus? Mit wie wenig Essen kam er zurecht? Was hieß denn Inspiration, wenn die Gedärme im Leib schrien, draußen das Licht schwand, und er kein Geld hatte, um sich Lampenöl zu kaufen, während ihm die Finger um den Pinsel oder den Bleistift steif froren?
     
    Not war ihm bisher unbekannt gewesen. Nun lernte er Armut kennen. Er dachte nicht einen Moment daran, dass er im Dienst einer kostbaren Sache litt. Er empfand über den Hunger und die Müdigkeit hinaus nur ein Gefühl, und das hieß Scham. Es quälte ihn, dass er gezwungen war, sich auf der Straße in seinen zerschlissenen Kleidern zu zeigen. Den Bart, seinen Stolz und seine Zierde, rasierte er mit eiskaltem Wasser. Es brannte, aber er sah ein, dass der Bart ihn nicht länger männlich aussehen ließ, sondern lediglich verwahrlost.
    Er zweifelte nicht an seiner Kunst. Er zweifelte, ob sie dies alles wert war. Er verstand nichts. Er wollte etwas Edles schaffen. Er sah sich als Entdeckungsreisenden und Pionier. Er wollte der Menschheit zeigen, wie schön die Welt war. Warum musste er dafür Schmutz und Kälte erdulden?
     
    Carl besuchte die Familie am Solitudevej nicht mehr. Er wollte nicht, dass Henrietta ihn so sah. Er bekam Briefe von ihr, die er nicht beantwortete. Eines Tages stand sie in der Tür seines Zimmers. Sie hatte nicht angeklopft, als hätte sie geahnt, dass er sich vor ihr versteckte.
    »Wie du aussiehst«, sagte sie missbilligend.
    Sie kam auf ihn zu und schnüffelte. »Du riechst auch.«
    Sie sprach mit ihm wie mit einem Kind, und einen Moment fühlte er sich gekränkt. Verstand sie denn überhaupt nicht die Größe seiner Leiden? Ein Schatten von Unsicherheit zeigte sich auf ihrem Gesicht. Das erste und einzige Mal, dass er sie an sich selbst zweifeln sah. Sie musste geglaubt haben, dass er sich fernhielt, weil er sie nicht mehr mochte. Er konnte ihr alles vergeben, aber nicht Unsicherheit. Irgendjemand musste sicher durch die Welt gehen, und da er es nicht tat, musste sie es sein.
    »Hast du genug zu essen?«
    Carl hörte das Energische in ihrer Stimme. Sie verbarg ihre Gefühle hinter mütterlicher Fürsorge. Aber er war kein Kind mehr.
    »Ja, danke, ich esse ausgezeichnet.«
    Sie sah sich in der Kammer um. »Hast du etwas gemalt?«
    Er zuckte die Achseln. »Ich wär gern allein.«
    Er wusste nicht, warum er das sagte. Er dachte, weil er sich selbst hasste und sich möglicherweise überhaupt nicht zum Künstler eignete.
    Sie blickte zu Boden, die Wangen unter ihrem dichten kastanienbraunen Haar wurden rot. Sie verlegte ihr Gewicht erst auf das eine, dann auf das andere Bein, ihr Körper

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