Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
die Unsicherheit in seiner Stimme.
Carl war ebenso überrascht wie erschrocken, dass der Vater ihn von allen Erwartungen freistellte. Er hatte sich auf Widerstand eingestellt, nicht auf Gleichgültigkeit. Er hatte das Gefühl, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, obwohl er Henrietta als Stütze hatte.
Die Freiheit kam ihm vor wie ein leerer Bottich, doch statt mit Plänen füllte er sich mit Einsamkeit.
Carl erklärte seinen Abschied bei Manufakturhändler Ottensen mit einer so bedrückten Miene, dass der Manufakturhändler die Situation missverstand und glaubte, unglückliche Umstände in der Familie daheim auf Ærø zwängen ihn, die Lehrstelle in Kopenhagen aufzugeben. Ottensen fragte nicht. Stattdessen legte er eine aufmunternde Hand auf die Schulter des jungen Mannes.
»Du kannst jederzeit zu mir kommen. Ich war froh, dich hier gehabt zu haben. Du bist ein gewissenhafter Junge.«
»Du hast Angst«, sagte Henrietta.
Er konnte sie nicht anlügen. »Ja, ich habe Angst.«
»Du darfst niemals Angst haben, wenn du das Richtige tust.«
Er war aus dem Zimmer am Gammel-Strand in ein Hinterhaus am Nyhavn gezogen. Sie saßen sich an dem Tisch gegenüber, der zusammen mit zwei Stühlen und einem Bett das Mobiliar dieser kleinen Kammer bildete. Sie waren Vetter und Cousine und durften daher ohne die Aufsicht eines Erwachsenen allein sein. Sie nahm seine Hand.
»Steh auf«, sagte sie.
Er schob den Stuhl zurück und stand verwirrt im Zimmer. Noch immer hielt sie seine Hand. Er begriff nicht, was sie wollte.
»Im Moment habe ich eigentlich keine Lust zu tanzen.«
Sie lachte ihn spöttisch an. Das tat sie oft, und er stellte sich vor, dass so wohl eine Schwester ihren kleinen Bruder an der Nase herumführte, der ein wenig schwer von Begriff war. Aber er sah einen Schalk in ihren Augen, den er mit nichts Schwesterlichem verbinden konnte.
»Wir wollen nicht tanzen«, erwiderte sie. »Wir wollen gehen.«
»Gehen?« Er sah sich in der engen Kammer um. »Hier?«
»Ja, hier. Heb ein Bein und lehn dich nach vorn.«
»Aber dann falle ich.«
»Komm, mach schon, was ich dir sage.«
Er hob das Bein wie ein Storch und beugte sich vornüber, bis er beinahe das Gleichgewicht verlor. Henrietta mochte schmächtig sein, aber ihre Hände waren kräftig. Sie hielt ihn.
Er setzte eine nachsichtige Miene auf. Er hatte den Eindruck, dass die Rollen nun vertauscht waren. Jetzt war er der Erwachsene, der den Launen eines Kindes nachgab.
»Wollen wir etwa den ganzen Tag so stehen bleiben?«
»Jetzt stellst du den Fuß wieder auf den Boden«, sagte sie unbeirrt. »Und dann wiederholst du die Bewegung mit dem anderen Fuß. Nur ruhig, ich bin immer noch da.«
Einen Augenblick später standen sie beide mit der Nase an der Wand.
Er blickte sie von der Seite an.
»Und nun warte ich gespannt auf das Geheimnis des tieferen Sinns in diesem Mysterienspiel.«
In seiner Stimme schwang eine wachsende Irritation.
Henrietta lachte nur.
»Muss man dir alles zweimal erklären? Verstehst du nicht, was ich dir zeigen wollte? Du bist gegangen.«
»Ja, wir haben die bedeutende und enorm interessante Distanz von der Zimmermitte bis zur Wand zurückgelegt. Und was soll das bedeuten?«
»Bei jedem Schritt bist du aus dem Gleichgewicht geraten und hast es wiedergefunden. Wenn man ständig beide Füße auf dem Boden haben will, kommt man nirgendwo hin. Zu gehen bedeutet, für einen Moment das Gleichgewicht zu verlieren.«
Sie sah seinen verblüfften Gesichtsausdruck.
»Ein Dichter hat das gesagt«, lachte sie. »Oder ein Philosoph. Ich weiß es nicht mehr. Ingemann war es jedenfalls nicht.«
Plötzlich stieg eine ungeheure Freude in ihm auf. Er trat dicht an sie heran und legte ihr die Arme um den Leib.
»Und was sagt dein Philosoph über das Tanzen?«
»Ich glaube nicht, dass er tanzt.«
Durch das stramme Mieder spürte er die Wärme ihres Körpers. Er hätte sie gern eng an sich gedrückt, wagte es jedoch nicht. Sie tanzten ein paar Walzerschritte, erst in die eine, dann in die andere Richtung, und brachen ab. Das Zimmer war nicht groß genug. Sie standen sich gegenüber, ohne ein Wort zu sagen. Er sah ihr in die Augen, er spürte, dass die Röte, die sich auf ihren Wangen zeigte, ein Widerschein der Hitze sein musste, die seine eigenen Wangen entzündete. Ihre Augen schlossen sich, als wollten sie nicht Zeuge dessen sein, was nun geschah. Beide beugten sich vor, und ihre Lippen trafen sich. Das Erlebnis der Nähe des anderen war
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