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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Einen der Matrosen erkannte er. Niels Peter. Carl senkte den Blick. Er konnte sich gut daran erinnern, wie Niels Peter ihm die Nase blutig geschlagen hatte, weil er nichts Hässliches zeichnen wollte. Bereits damals hatte er für seine Kunst gelitten.
    Niels Peter grüßte ihn, als wäre nichts geschehen – als wären sie noch immer Freunde. Carl blickte auf und erwiderte den Gruß. Eine plötzliche Eingabe ließ ihn nach einer Mitreisemöglichkeit fragen. Niels Peter holte den Skipper. Es war Carls Onkel Ras aus der Møllegade in Marstal.
    Er ließ seinen Blick über den derangierten Carl schweifen.
    »Da haben wir ja unseren Künstler«, sagte er und schüttelte den Kopf.
    »Niels Peter, du hast sicher ein paar saubere Klamotten, die du ihm leihen kannst. So wie er aussieht, kann er jedenfalls hier nicht herumlaufen.«
    Kurz darauf stand Carl wie ein vollbefahrener Matrose in Pullover und weiten Hosen an Deck.
    »Jetzt siehst du ganz repräsentabel aus«, meinte Rasmussen und schlug ihm auf die Schulter.
    »Ein Tauende wirst du wohl ziehen können«, erklärte der Skipper, »außerdem will ich eine Zeichnung des Kahns und was du unterwegs noch so zusammenkritzelst. Damit bezahlst du für die Überfahrt.«
    An einem Tauende ziehen konnte Carl, vorausgesetzt, jemand gab ihm genaue Anweisungen. Im Übrigen verstand er nichts von den Dingen, die an Bord vorgingen. Die Überfahrt verlief ruhig, und er bekam drei Mahlzeiten am Tag. Zum ersten Mal seit langer Zeit holte er seine Zeichensachen heraus und zeichnete eine Skizze von einem vorbeisegelnden Schiff und einer waldbedeckten Landspitze. Die Seeleute standen um ihn herum, und Niels Peter verbreitete sich mit Kennermiene über seine Fähigkeiten. Niels Peters Stolz über ihre Bekanntschaft überraschte Carl.
    »Ja, du kannst etwas, das wir anderen nicht können, Bursche«, sagte Rasmussen, »Seemann wirst du vermutlich nicht, doch den Blick hast du.« Und dann begann er, die Details in Carls Zeichnung zu kommentieren.
    Carl richtete sich auf. Ein ganzes Jahr hatte er missmutig vergeudet. Nun wurde ihm plötzlich und unerwartet Anerkennung gezollt. Rasmussen war bestimmt kein Kunstkenner, aber vor Talent hatte er Respekt. Künstler zu sein, hieß also doch nicht, einsam zu sein. Carl wuchs mit jeder Seemeile, mit der sie sich Marstal näherten.
    Die erste Nacht auf der Insel verbrachte er bei der Familie des Skippers in der Møllegade. Seine alten, zerschlissenen Kleider wurden gewaschen und gefickt, und bevor er über die Insel heim nach Ærøskøbing lief, wurde er mit Pfannkuchen und Sagosuppe bewirtet. Er kam am Lindesbjerg vorbei und wusste, dass er ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Nun begann der lange Abstieg hinunter zur Stadt. Die Aussicht über das Inselmeer öffnete sich. Er sah die langen Landzungen Ommelshoved und Urehoved, die an dünne Arme erinnerten, obwohl ihre Namen eher auf Köpfe anspielten. Dann die versprengten Werder Dejrø und Lillø und weit entfernt Fünen als dunkler Rand. Es handelte sich um das Land seiner Kindheit. War es auch sein Platz als Künstler?
    Plötzlich bekam er Magenschmerzen und musste in einem Graben Zufucht suchen.
     
    Die Mutter weinte, als sie ihn sah.
    »Du bist so dünn geworden«, sagte sie. »Bekommst du denn nichts zu essen?«
    Der Vater schaute missbilligend auf seine zerschlissenen Kleider.
    »So etwas tragen in Kopenhagen alle Künstler«, behauptete Carl.
    Die Aufmerksamkeit auf der Anne Cathrine hatte ihn übermütig werden lassen.
    »Nun ja, ich werde dich nicht füttern«, erklärte der Vater.
    Carl blieb einige Tage. Der Vater schaute jeden Mittag über seinen Teller, als würde ihm das Essen vom Mund gestohlen. Er schien alt geworden zu sein. Um seinen Mund zeigte sich ein gieriger Ausdruck wie bei einem Kind, das eifersüchtig darauf achtet, dass die anderen nicht mehr bekommen. Doch die Mutter schöpfte Carl jeden Tag eine Extraportion auf seinen Teller. Ein Kampf tobte zwischen den Eltern, der sich quer über den Mittagstisch abspielte, doch in der Mutterliebe lag eine Kraft, die den Vater zwang, den Mund zu halten.
    Carl quälten Schmerzen. Das häufige Hungern in Kopenhagen hatte seinen Magen so empfindlich werden lassen, dass er nicht imstande war, die großzügigen Portionen der Mutter aufzuessen. Und er blieb auch nicht lange genug daheim, um sich wieder an regelmäßige Mahlzeiten zu gewöhnen.
    Der Vater registrierte es zufrieden. Also gab es doch noch Gerechtigkeit, obwohl

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