Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
sein Arm zu müde war, um ihr Geltung zu verschaffen.
Nach einer Woche ging Carl zurück nach Marstal und bat Rasmussen um eine Heuer.
»Mit Rücksicht auf die Familie«, sagte der Skipper. »Denn du bist, verfucht noch mal, keine sonderlich große Hilfe auf einem Schiff, mein lieber Carl. Und ich glaub auch nicht, dass wir aus dir einen Mann machen können. Aber ich glaube dennoch, dass der Tag kommen wird, wo wir stolz auf dich sein werden. Und dann soll keiner von Rasmussen sagen, dass er nicht bereit war, dir eine Hand zu reichen. Du bekommst zu essen, nur aus der Heuer wird nichts.«
Carl segelte den ganzen Sommer mit Rasmussen. Er zog an den Tauenden, an denen zu ziehen man ihm befahl. Er enterte ins Rigg und ihm wurde schwindlig. Allerdings bekam er nie den Befehl, hinaus auf die Rah zu klettern. Die anderen behielten ihn immer im Auge. Erst glaubte er, dass sie ihn wegen seiner mangelnden Fähigkeiten verachteten. Dann wurde ihm klar, dass sie auf ihn aufpassten. Sie betrachteten ihn als einen Sonderling, aber auch als Rarität, und eine Rarität musste man vorsichtig behandeln.
Mit einer derartigen Großzügigkeit hatte er nicht gerechnet; diese Erfahrung gab ihm Hoffnung. Zwischen ihnen wurde ein Band geknüpft, das stärker war, als ihm damals bewusst war. Ein Pakt, dachte er, als er viele Jahre später daran zurückdachte.
Die Welt rief ihn, und er spürte, wie etwas in ihm antwortete. Nicht die Diskussionen über Kunst inspirierten ihn. Auch nicht die Leinwand eines fremden Malers oder ein Lehrer. Es war das Leben selbst: halbwüchsige Schiffsjungen und Matrosen, die sich gegenseitig schubsten, um einen Blick in sein Skizzenbuch zu werfen, unkundig und gleichzeitig doch so erfahren. Das Modell wurde plötzlich lebendig und wandte sich an den Künstler. Er sprach mit der Wirklichkeit.
Ungeduldig war wohl das richtige Wort. Er wurde ungeduldig.
Und in seiner Ungeduld sehnte er sich wieder nach Henrietta. Er schrieb ihr, als ob nichts geschehen wäre, und erzählte von sich.
»Ich male das dänische Volk«, schrieb er. »Ich male das Leben auf See. Ich fühle, dass ich dazugehöre.«
»Mein lieber Seemann«, schrieb sie zurück, »fall mir bloß nicht vom Mast. Du darfst nicht vor mir ertrinken. Lerne zu schwimmen. Dann werde ich ernsthaft stolz auf dich sein.«
Ende August kam eine Nachricht aus Ærøskøbing. Sein Vater wünschte, mit ihm zu sprechen.
Skipper Rasmussen gab ihm zum Abschied die Hand.
»Viel Glück«, sagte er. Nicht mehr, und Carl verstand, dass er nicht zurückkehren sollte.
Der Vater stand in der Haustür und erwartete ihn. In der Hand hielt er einen Brief. Er reichte ihn Carl, der sah, dass der Vater ihn geöffnet hatte.
»Die Akademie hat dir einen Freiplatz angeboten«, sagte er.
C arl erwachte mit einem Ruck, er blieb noch eine Weile liegen und lauschte dem Knarren der Sparren, wenn die Peru in der See rollte. Dann verließ er in einem plötzlichen Anfall von Entschlossenheit das Bett und stand taumelnd auf den Kajütendielen. Er musste an Deck und den Wind im Gesicht spüren, um die letzten Reste seines Traumes über die Wellen fortblasen zu lassen. Er brauchte sich nicht anzuziehen. In seiner Kälteempfindlichkeit hatte er in all seinen Kleidern geschlafen. Er war mit seinem Körper eigentlich immer sehr sorgsam umgegangen, sodass er nicht daran zu denken wagte, was sein Mangel an Sorgfalt für seine Hygiene bedeutete. Andererseits gab es nur Männer an Bord. Auf See hatten sie vermutlich ein ähnlich großzügiges Verhältnis zur Reinlichkeit wie er. Carl strich mit einer Hand durchs Haar, das vom Salz ebenso steif war wie sein Bart. Dann kletterte er die Leiter hinauf und trat an die Reling. Nach einigen Schwierigkeiten durch die vielen Lagen seiner Kleidung konnte er sich erleichtern. Mit einem Wink grüßte er den Rudergänger, der zum Schutz gegen den Regen eine gelbe Öljacke trug. Der Rudergast grüßte mit einem Finger an der Mütze zurück.
Carl ging in seine Kajüte und legte sich ins Bett.
Das erste Eisfeld tauchte auf. Drei Tage später kam Grönland in Sicht, einundvierzig Tage nach der Abreise aus Kopenhagen. Die meiste Zeit hatte eine mäßige bis starke Brise geweht, ein paarmal war Sturm aufgekommen, aber es hatte ebenso schnell wieder abgefaut. Der Himmel zeige ein einheitliches Grau, doch das Licht hinter den Wolken wurde kräftiger. Bald würde es vierundzwanzig Stunden am Tag hell sein.
Die lange ereignislose Reise hatte sich
Weitere Kostenlose Bücher