Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Zinken ist ziemlich gut getroffen. Es heißt ja, dass er eine ziemlich große Nase hatte. Aber diese Glupschaugen – da haben Sie ihm aber ein paar gewaltige Kuhaugen verpasst.«
    Sein Gastgeber in Godthåb, der Kolonieverwalter Berendtsen, polterte ins Gästezimmer. Berendtsen, ein ehemaliger Böttcher, glich einer der Tonnen, die er früher einmal angefertigt hatte: grobe Knochen, dicker Bauch und ein gewölbter Brustkorb, den ein kräftiger roter Haarwuchs überzog. Auch aus den Nasenlöchern und Ohren wuchsen ihm Haarbüschel, seine Augen wurden von den Brauen beinahe verdeckt. Berendtsen sah aus, als hätte ihn die Natur von vornherein dazu ausgerüstet, in einem kalten Klima zu überleben. Wenn er sich in die wilden Winterstürme hinausbegab, ergänzte er seine natürliche Haarpracht mit einem weiten langhaarigen Pelz; und wenn der Pelz nicht weiß und sein strubbeliges Haar nicht rot gewesen wäre, hätte sich nur schwer erkennen lassen, wo der Mensch aufhörte und das Tier begann. Den Hut über den Kopf gezogen, glich er im Schneegestöber einem Eisbären, der sich auf den Hinterbeinen aufrichtete; und mehr als einmal hatte er Warnrufe ausstoßen müssen, um nicht von grönländischen Fängern angeschossen zu werden, die glaubten, ein gefährliches Raubtier wäre auf der Suche nach Beute in ihre Siedlung eingedrungen.
    Berendtsens Ehefrau hingegen war blass und dürr, mit glanzlosem Haar. Das Klima in Grönland griff sie an. In der hellen Sommerzeit, in der die Sonne selten verschwand, konnte sie nicht schlafen, und in der endlosen Dunkelheit des Winters verließ sie ihr Bett nicht und blieb mit Depressionen liegen. Sie hatten keine Kinder. Sie begrüßte Carl mit einem kleinen Knicks und nannte ihren Namen. »Cornelia Berendtsen, geborene Lind.«
    Carl hatte den Eindruck, dass sie ihren Mädchennamen nannte, um sich und den Besucher daran zu erinnern, dass sie einst eine andere gewesen war.
     
    Berendtsen lud Carl hin und wieder in den ersten Stock ein, in sein Raucherzimmer, wie er es nannte. Seine Frau hatte ihm verboten, im Wohnzimmer die lange Pfeife anzuzünden. Die Einrichtung des Zimmers bestand aus zwei Ledersesseln mit eingesunkenen Sitzen und einem abgewetzten Sofa mit weichen Kissen aus einem verblichenen schwarzen Bezug. Berendtsen hatte seinen festen Platz auf dem Sofa, auf dem er die Beine hochlegen konnte. Die mangelnden Fähigkeiten seiner Frau in der Küche gehörten zu seinen Lieblingsthemen.
    »Sie hat keine Ahnung, wie man eine braune Soße macht«, sagte er eindringlich, gewiss, bei einem so wichtigen Thema die Sympathie des Gastes zu gewinnen.
    »Entweder ist sie zu dick, oder sie wird zu dünn. Und wenn’s dann mal einigermaßen gelingt, brennt sie ihr an. Was sagen Sie, was soll ich machen? Verdammt, ich kann doch keinen Eskimo bitten, braune Soße zu kochen.«
    Carl nickte. Sein Magen vertrug die fetten eingebrannten Soßen nicht, aber ihm schien es vernünftig, ein wenig Interesse für den offensichtlichen Kern der Lebensphilosophie seines Gastgebers zu zeigen. Denn über eine solche Lebensphilosophie verfügte Berendtsen. Seine Vorstellung vom Dasein kreiste in festen Bahnen um seinen Bauch, so wie die Planeten die Sonne umrundeten.
    Carl hatte ihn nach seiner Ansicht über das geheimnisvolle Verschwinden der Nordländer aus Grönland gefragt. Auf seiner Reise entlang der grönländischen Westküste und zurück nach Godthåb hatte man ihm eine Unzahl von Erklärungen präsentiert. Je nach Einstellung und Temperament hatte er wählen können. Die einen meinten, die Nordländer hätten, müde vom ungleichen Kampf gegen das barsche Klima, ihre Schiffe mit Mann und Maus beladen und wären fortgesegelt. Andere waren der Ansicht, Hunger und Krankheiten hätten sie umgebracht. Und einige wenige glaubten, die Nordländer hätten sich mit den Eskimos vermischt. Die Nordländer wären also noch immer hier, ihre Nachkommen hätten bloß jegliches Rassenmerkmal verloren, nachdem sie in dem zahlenmäßig überlegenen mongolischen Volksstamm aufgegangen waren. Carls Bericht von seiner Vision an der Kirchenruine auf Hvalsø jedoch hatte nur Kopfschütteln ausgelöst. Der Gedanke, dass die kleinen Eskimos, deren sanfte Umgänglichkeit und kindliche Einfalt sie tagtäglich erlebten, die physisch überlegenen und kampfgewohnten Nordländer übermannt und ausgerottet haben sollten, widersprach nicht nur jedweder Erfahrung. Es war zu abwegig, so etwas überhaupt nur zu denken. Eine überlegene

Weitere Kostenlose Bücher