Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Zivilisation ließ sich nicht einfach von Wilden überrennen.
Berendtsen lachte aus seiner liegenden Position auf dem Sofa, als Carl das Thema ansprach. Sein stattlicher Bauch geriet in Wallung, er hielt ihn mit beiden Händen fest, als wollte er verhindern, dass sein gewaltiger Körper kenterte. Carl hatte immer den Eindruck, dass der Bauch, der sich unter Berendtsens breitem Brustkasten hervorwölbte, in gewisser Harmonie mit dem Rest des grobschlächtigen Körpers lebte. In seiner Komplexität glich er eher einem angespannten Muskel als dem Resultat eines übertriebenen Wohllebens.
»Ha, ha, ha!«, brüllte Berendtsen, der gar nicht wieder aufhören wollte zu lachen, obwohl Carl durchaus nicht der Ansicht war, dass der Untergang der Nordländer Anlass zu Gelächter bot.
»Die Antwort liegt doch direkt vor Ihnen«, japste Berendtsen, als er endlich wieder Luft bekam. »Ja, sehen Sie mich an, Rasmussen, ich halte sie hier in meinen Händen.«
Seine Hände ruhten noch immer auf seinem Bauch.
»Wir Nordländer können unsere braune Soße und unsere Grütze einfach nicht entbehren, wir brauchen Butter und Käse aufs Brot. Am Sonntag hat es Rinderbraten zu geben und zu Weihnachten Schweinebraten. Ein Bauch ist eine empfindliche Angelegenheit. Er muss versorgt und gepfegt werden. Man muss ihn mit brauner Soße schmieren, sonst funktioniert die Maschinerie nicht. Und zwischendurch braucht man auch mal ein Bier. Aber sehen Sie sich doch mal um. Man kann auf Grönland keine Kühe halten. Es gibt kein Gras, es gibt kein Heu, es ist einfach verdammt noch mal zu kalt. Nein, die Nordländer sind nicht ausgestorben. Ihre Kühe gingen ein, und dann folgten ihnen die Nordländer in die Grube. Ja, ich weiß, das klingt beleidigend in den Ohren eines empfindsamen Künstlers, aber Sie müssen der Realität ins Auge sehen, Rasmussen. Braune Soße ist die Kulmination der nordischen Kultur. Ohne sie wären wir keinen sauren Hering wert. Nicht dass ich was gegen Hering hätte. Ich bin da nicht anders als andere. Ich schätze meinen Hering und meinen Schnaps dazu, wirklich. Aber Fisch, das ist und bleibt nun mal Arme-Leute-Kost. Und Robbenspeck! Haben Sie mal versucht, Robbenspeck zu kauen, Rasmussen?«
Carl schüttelte den Kopf.
»Das sollten Sie sich auch nicht wünschen. Sie würden lieber sterben, als es noch einmal zu tun, wenn Sie erst mal so’n Stück Gummi im Mund hatten. Genauso ging’s den Nordländern. Darum sind sie verschwunden. Sie gaben geistig und körperlich auf, als sie nichts Ordentliches mehr zu essen hatten. Verfucht, wir haben schließlich keine Eskimomägen.«
Berendtsen erwies sich nicht als Kunstkenner, und außer seiner Bemerkung über Hans Egedes große Nase hatte er zu Carls Bildern nicht viel zu sagen.
Einen Zuschauer bei seiner Arbeit an der Leinwand hatte Carl dennoch. Ob es sich bei ihm um einen Kunstkenner handelte, wusste Carl nicht, denn im Gegensatz zu dem redseligen Berendtsen blieb er stumm.
Eines Tages klopfte es an Carls Tür. Draußen stand sein Gastgeber.
»Hier ist ein Gast für Sie.«
Jonas, sein Begleiter auf dem Ausfug nach Hvalsø, trat in die Tür. Er nickte und lächelte. Irgendein Anliegen hatte er offensichtlich nicht. Getreu seiner Gewohnheit sagte er kein Wort. Er war offenbar zu der Erkenntnis gelangt, dass Schweigen die beste Sprache war, wenn es um die Dänen ging. Als er einen Blick auf die Leinwand warf, auf der Hans Egede mitten in der eisbedeckten Landschaft kniete, erstarrte er. Es schien, als hätte er nur noch Augen für die ins Gebet versunkene Gestalt. Er setzte sich auf einen Schemel und starrte unverwandt auf die Leinwand. Es glühte in ihm, als würde im nächsten Moment eine Farbe in seiner Iris auffammen und die schwarzen Augen braun oder vielleicht sogar blau werden lassen.
Carl starrte ihn gebannt an, ihm wurde klar, dass er noch einmal den Augenblick mit den Marstaller Jungen auf dem Lindesbjerg erlebte, damals, als er entdeckt hatte, dass allein die Kunst über jene Kraft verfügte, Seelen zu vereinen.
Er hatte die Seele eines Eskimos gefunden. Aber er wusste sofort, dass er Jonas’ Blick niemals mit dem Pinsel einfangen konnte. Nur bei der Betrachtung des Gemäldes fammte Jonas’ Seele auf. Die Kunst ließ ihn leben.
Er hatte niemals mit Jonas gesprochen. Nun konnte er es endlich. Sie fanden ihre gemeinsame Grammatik auf der Leinwand. Das Frühjahr kam, aber die Tage waren noch immer kurz. Wenn das Licht schwächer wurde, legte Carl den
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