Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
um Henriettas Hand anhalten. Und nun erschienen sie in Schwarz.
Das Schiff kam näher. Er sah sie jetzt deutlicher, erkannte die korpulente Gestalt der Tante. Carl ließ den Blick schweifen und glaubte, Henrietta gefunden zu haben. Doch es handelte sich um Anna Egidia. In seiner Abwesenheit war sie gewachsen, sie war kein großes Mädchen mehr, sie war nun eine Frau. Aber wo blieb Henrietta? Hatte sie irgendetwas aufgehalten? Sollte sie etwa krank sein?
Er entdeckte Dorothea, die verkrüppelte Schwester mit dem Buckel. Sie kränkelte und blieb eigentlich immer zu Hause. Wieso hatte sie sich mit ihrer angeschlagenen Gesundheit in den zugigen Hafen gewagt?
Kaum hatte er sich die Frage gestellt, kannte er bereits die Antwort.
Es konnte nur einen einzigen Grund dafür geben, dass Dorothea mit den beiden anderen am Kai stand. Bei der schwarzen verwachsenen Gestalt handelte es sich um einen Boten des Bösen, um einen Todesengel.
Nach seinem langen Aufenthalt unter freiem Himmel und der Heimreise auf See kehrte Carl sonnengebräunt und mit ledriger Haut zurück. Er verspürte ein Selbstbewusstsein, eine neu erworbene Männlichkeit, und träumte davon, sich nach seiner Heimkehr wie ein Dandy mit Schoßrock, bestickter Weste und einem breitkrempigen, weich gefütterten Künstlerhut zu kleiden. Den im Laufe des Winters auf Grönland dicht und wild gewachsenen Bart hatte er ein paar Tage, bevor das Schiff in Kopenhagen einlief, gestutzt, bis nur noch ein spitzer kleiner Kinnbart und ein Knebelbart geblieben waren, dessen Spitzen er sorgfältig wichste.
Alles nur wegen Henrietta. Sie hatte ihn doch als Erste ermuntert, nach Grönland zu reisen. Sie hatte ihn unterstützt, als er an sich zweifelte. Sie hatte tapfer warten wollen, solange er dort oben in der Winterdunkelheit blieb. Sie war sein Spiegel. In ihren Augen sollte sein Triumph Wirklichkeit werden.
Und nun stand er da mit seinem Traum, seiner sorgfältig vorbereiteten Selbstinszenierung, seinem Plan, mitten auf dem Kai um ihre Hand anzuhalten. Es hätte eine stürmische, mitreißende Ankunft werden sollen. Seine Lippen begannen zu zittern. Dann riss er sich zusammen. Er richtete sich auf, und seine Lippen zogen sich zu einem schmalen, entschlossenen Strich zusammen.
Es war der Wendepunkt.
Carl ging an Land wie ein Mann, dessen Schicksal ihm bereits bekannt ist. Sie folgten ihm mit den Augen, als er sich näherte. Dann schlugen sie die Blicke nieder. Niemand sagte ein Wort. Sie sahen ihm an, dass er Bescheid wusste. Anna Egidia legte ihren Kopf an seine Brust, während sie seine Hand suchte. Es geschah so instinktiv, so vertrauensvoll, genau so, als wäre sie in diesem Moment nicht nur die kleine Schwester der Toten, sondern auch seine. Und doch spürte er die Frau in ihr. Sie begann zu weinen. Die Trauer brach aus ihr heraus, er fühlte, wie ihr Körper zitterte. Dorothea stand ein wenig entfernt. Die Tante legte eine tröstende Hand auf seine Schulter.
»Wann ist es passiert?«, wollte er wissen.
Er vermied es, Henriettas Namen auszusprechen. Bei ihrem Tod handelte es sich um ein ›Es‹, um ein Ereignis, nicht um das Ende eines Menschenlebens.
Henrietta war einige Monate zuvor gestorben. Der Winter hatte ihr sehr zugesetzt. Ihre Haut wurde blasser als gewöhnlich, mit einem ungesunden blauen Unterton, als lägen die Blutadern nicht mehr so tief wie bisher. Sie hatte abgenommen. Dazu kam der Husten. Carl hatte ihn vor seiner Abreise gehört, aber stets für eine Erkältung gehalten. Ein kleiner diskreter Husten. Fast klang es, als würde sie sich räuspern. Er hatte eine Verlobte, die sich räusperte. Keine Verlobte, die bald sterben sollte. Sicher, immer häufiger hatten sie ihre langen Küsse unterbrechen müssen. Es war sogar vorgekommen, dass sie ihn mit einer abwehrenden Handbewegung aufhielt, noch bevor sich ihre Lippen trafen. Dann hatte er reagiert, als würde ihm ein Recht verweigert, und war in sauertöpfisches Grübeln verfallen. Sein eigenes Wohlbefinden hatte an erster Stelle gestanden, nicht ihre Gesundheit. Wieder diese Selbstsucht.
Carl hatte keinen Grund gesehen, irgendetwas zu überstürzen. Er hatte ein Ziel, das er erreichen wollte, aber dieses Ziel hatte nicht darin bestanden, um ihre Hand anzuhalten, bevor der Tod es tat. Nun war ihm der Tod zuvorgekommen und hatte das Jawort ihres kränkelnden Körpers bekommen. Er war blind gewesen, beschäftigt mit seinen eigenen Plänen, Henrietta hatte warten müssen. Ein Schuldgefühl
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