Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
versuchen, sie zu verbessern, denn sie ist das Werk unseres Herrn. Aber so eine schmutzige Bauernküche – ist auch sie ein Werk des Herrgotts? Oder hat es nicht doch eher menschliche Gründe? Und sollte es nicht gestattet sein, Menschenwerk zu verbessern?«
    »Also sehen Sie den Künstler als eine Art Erzieher. Es sind nicht die wahren einfachen Leute, die Vermehren schildert, sondern die ideellen. Indem er die Bauern besser darstellt als sie sind, trägt der Künstler also zu ihrer Erbauung bei?«
    »Ja, so könnte man es wohl ausdrücken«, sagte Aagaard, noch immer mit einem spöttischen Lächeln. »Persönlich würde ich es allerdings nicht so formulieren. Sehen Sie …«, er blickte Holm direkt an, als ob er in ihm einen Gegner ahnte, »… ich habe so großen Respekt vor dem Geschmack meines Publikums, dass ich es nicht vor den Kopf stoßen möchte. Wer will denn all diese tierischen Schweinereien sehen, die das gemeine Volk umtreibt? Wer will Menschen sehen, die von harter Arbeit und Armut verroht und verkrüppelt sind? Ich nicht. Und das gebildete Publikum auch nicht. Mal, was dein Auge sieht, aber nur, wenn es dein Auge nicht abstößt. Geh deinem Publikum nicht auf die Nerven. Sonst wendet es sich gegen dich, und dann hast du gar nichts davon.«
    »Aber dann ist Kunst nichts anderes als eine ständige geistige Sommerfrische. Und der Künstler in seiner Festung hat sich bloß ruhig zu verhalten? Draußen im Leben soll er keinerlei Eroberungsversuch unternehmen?«
    »Mein lieber Holm, wovon sprechen Sie? Kunst ist doch kein Krieg oder Kampf. Kunst ist Versöhnung, Friede, Idyll. In ihr finden wir das geistige Gleichgewicht, das uns das Leben bedauerlicherweise so oft vermissen lässt. In der Welt um uns herum gibt es genügend zersetzende Kräfte. Mit ihnen hat sich die Kunst nicht gemein zu machen.«
    »Nun, mir scheint es eher so zu sein, Aagaard, dass es weniger ein geistiges Anliegen ist, sondern eher der Verkauf Ihrer Gemälde, um den Sie sich sorgen. Leicht zugänglich zu sein und sich dem gebildeten Geschmack anzupassen – ist das wirklich alles, was den Künstler Ihrer Ansicht nach antreiben sollte? Ich habe Sorge, dass dieses Gerede nur dazu dient, den Jungen hier zu korrumpieren.«
    Holm nickte in Carls Richtung. Aagaard sagte nichts. Er spielte mit dem Stiel seines Weinglases und hatte einen abwesenden Gesichtsausdruck. Als würde ihn die ganze Diskussion nichts angehen. Seine Frau zog missbilligend die Augenbrauen zusammen und sah Holm streng an. Der Gastgeber, der gutmütige Frisch, versuchte die Situation zu retten.
    »Carl«, sagte er, »du bist doch die Jugend und die Zukunft. Wie sind deine Pläne?«
    Am Tisch erhob sich beifälliges Gemurmel und alle Blicke richteten sich auf Carl. Der erwachte wie aus einem Dämmerschlaf. Er hatte die Diskussion verfolgt, ohne dass er in der Lage gewesen wäre, sich eine eigene Meinung zu bilden. Im Grunde sympathisierte er mit beiden Seiten. Aber der Wein hatte seine Wirkung getan, und noch bevor er richtig nachgedacht hatte, öffnete er den Mund, um zu antworten.
    »Ich will nach Grönland.«
    »Nach Grönland? Zu den Wilden?«
    Aagaards Stimme war voller Spott.
    »Die Eskimos sind keine Wilden. Sie sind ein edles Naturvolk.«
    »Die Eskimos sind edel? Nun ja, jedenfalls ein origineller Beitrag in der Diskussion über das gewöhnliche dänische Volk. Die Eskimos!«
    Aagaard setzte sein Glas an den Mund und leerte es.

Rückblick
     
    D ie Eisberge, der Schnee, das Meer, alles pulsierte in einem Licht, das seine Palette einfach nicht erfassen konnte. Carl hatte während seines ersten Besuchs auf Grönland die Versuchung verspürt, alles über Bord zu werfen, was er über Schatten-, Zwischen- und Lichttöne gelernt hatte. Der Polarhimmel und die weite gefrorene Landschaft schrien nach reinen unvermischten Farben. Aber er hatte widerstanden. Er hatte die Versuchung überwunden. Er erinnerte sich daran, was er auf der Akademie gelernt hatte. Er brauchte ein Fundament, auf dem er stehen konnte. Wenn er mit der Grundskala der Palette brach, würde es ihm gehen wie dem Kajakfahrer, den er eines Tages an einem Gletscher hatte vorbeifahren sehen – als der gerade kalbte. Wie ein gefrorener Meteor aus dem äußeren Raum stürzte ein halber Berg aus Eis über den Eskimo und riss ihn in die Tiefe.
    Doch Carl ging an die Grenze. Nie zuvor hatte er mit so reinen Farben gemalt, und auch später hatte er es nicht wieder gewagt, nicht einmal im kräftigen Licht des

Weitere Kostenlose Bücher