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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Pinsel beiseite und arbeitete stattdessen an einer Reihe von Zeichnungen, die Hans Egedes Leben auf Grönland schilderten. Er wusste, wie nach der Landung 1721 das erste Haus auf Håbets Ø errichtet wurde. Er zeichnete Egede auf dem Godthåbfjord von einem Boot aus predigend, das von Frauenbooten der Eskimos umgeben war. Er zeichnete die ersten Grönländer, die unter seiner Anleitung lernten, die Hände zum Gebet zu falten. Er zeichnete seine uneigennützige Pfege der Pockenkranken, die fehend zu ihm aufblickten, während sie den Segen durch seine ausgestreckten Hände empfingen. Er zeichnete Egedes Reise über das wütende Polarmeer, seine Wanderung durch Eis und Schnee von Hütte zu Hütte, den ganzen übermenschlichen Einsatz, bei dem nur der Glaube den gebrechlichen Körper durch all diese Strapazen trug.
    Die ganze Zeit sah Carl vor seinem inneren Auge die Kirchenruine auf Hvalsø und den fatternden Raben, der ihren Verfall mit seinen Steinkohleaugen bewachte.
    Nun ließ er die Kirche wieder erstehen.
     
    Jonas erschien jeden Tag. Sobald er über die Schwelle in das kleine Gästezimmer im ersten Stock trat, das Carl als Atelier nutzte, vollzog sich die gleiche Verwandlung. Jonas setzte sich auf einen Schemel, egal, ob Carl an einem Gemälde oder einer Zeichnung arbeitete, und verfolgte von dort aus mit einem gleichermaßen verlorenen wie hingerissenen Blick jeden Pinselstrich, jede Linie des Bleistifts, als gäbe es eine seltsame Verbindung zwischen den Bewegungen der Utensilien und etwas, das sich in seinem Hirn formte. Wenn Carl ihm signalisierte, aufhören zu wollen, erhob er sich, als wäre ein Zauberbann gebrochen, und verwandelte sich wieder in den gewohnten Jonas. Unter Lächeln und Nicken machte er sich zum Aufbruch bereit. An der Tür gab er Carl nach dänischem Brauch die Hand. Dann verschwand er, um am folgenden Tag wieder aufzutauchen. Doch ganz fort war er nie. Er blieb ein unsichtbarer Gast, wann immer Carl den Pinsel auf die Leinwand setzte, um an seinen Motiven weiterzuarbeiten.
    Carl sah in Jonas keinen Kenner der grönländischen Natur oder irgendeine Autorität für die Eskimokultur. Bei Jonas handelte es sich um diese fremde Seele, die ihm in vorbehaltloser Offenheit entgegenkam und plötzlich zu einem Vertrauten wurde, weil sie beide an der Macht der Kunst teilhatten.
     
    »Bei denen weiß man nie«, sagte Berendtsen eines Tages, als Carls Gast gerade gegangen war. »Man begreift einfach nicht, was im Kopf von so’nem Eskimo vorgeht.«
    Laut Berendtsen war Jonas ein angákoq, ein Schamane, ein Geisterbeschwörer, der alle Arten von primitiven Tricks beherrschte. Seine Eltern waren vor langer Zeit gestorben und weitere Familienangehörige schien er nicht zu haben. Auch gehörte er zu keinem bestimmten Ort unter den vielen großen und kleinen Ansiedlungen entlang der grönländischen Westküste, obwohl er mal in der einen, dann wieder in einer anderen Siedlung auftauchte, unerwartet und ohne dass irgendjemand erklären konnte, wie es ihm gelang, das unwegsame Terrain zu überwinden und die großen Entfernungen allein zurückzulegen.
    Carl interpretierte die Bezeichnung Geisterbeschwörer anders als Berendtsen. Er fand darin eine Erklärung für Jonas’ tranceartigen Zustand vor seiner Leinwand. Ebenso wie er schien der Eskimo fasziniert vom Geistigen zu sein. Das hatten sie gemeinsam.
    Und genau das suchte Carl, als er sich entschied, nach Grönland zurückzukehren. Einen Blick vor einer Leinwand, eine Seele, die sich plötzlich öffnete.
     
A m Kai des Trangraven in Christianshavn, wo die Schiffe der Königlich Grönländischen Handelsgesellschaft bei ihrer Rückkehr anlegten, empfingen ihn drei schwarzgekleidete Gestalten. Carl stand an Deck und blickte hinüber zum Pier.
    Wieso trugen sie Schwarz? Eine merkwürdige Wahl für den großen Tag des Wiedersehens.
    Seit nunmehr acht Jahren kannten sich Henrietta und er. Seit drei Jahren waren sie verlobt. Carl hatte warten wollen. Er fühlte sich als Maler noch nicht ausreichend durchgesetzt. Nun kehrte er aus dem eisbedeckten Grönland zurück und wollte um ihre Hand anhalten. Dort oben hatte er seinen ersten großen Sieg errungen. Jede einzelne Leinwand bewies es. Die Bilder waren eine Brücke zu Henrietta, die er eigenhändig gebaut hatte; eine Brücke zu Ehe und Zukunft, zu den Kindern, die sie gemeinsam haben wollten. Jetzt war er erwachsen, als Mensch und als Maler. Die Beweise standen in seiner Kajüte.
    Noch auf dem Kai wollte er

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