Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Südens. Das Farbspektrum der grönländischen Natur war nicht sonderlich breit, brannte dafür aber umso klarer. Hier lag wohl der tiefere Grund, dass es ihn wieder nach Grönland zog. Hier wartete eine Herausforderung, die er damals nur halb gemeistert hatte.
Letztlich war dies die Lehre seines Lebens: Für einen Künstler gab es keinen Ort, den er als seinen eigenen bezeichnen konnte, weder eine Heimat noch einen Hafen, den er eines Tages erreichte. Ein Künstler hatte nur ewig wechselnde Orte, und irgendwann kehrte er an einen Ort zurück, den er einmal verlassen hatte; nicht, um die Inspiration wiederzufinden, sondern weil bei seinem ersten Besuch eine Herausforderung unbeantwortet geblieben war. Möglicherweise handelte es sich um den gleichen Ort, doch die Namen der Schlachtfelder waren stets neu.
Carl hatte das Leben des Volkes gemalt, wie er es sah: ein Frauenboot auf dem Fjord, einen Skiläufer, Kajakfahrer und Wale, einen Sommerlagerplatz an einem ruhigen Fjord, einen betrunkenen Fänger, der nach Hause getragen wurde. Die Grönländer hatte er als Gemeinschaft dargestellt. So wie er sie erlebt hatte, als Menschen, die mit ihrem ganzen Wesen die Einsamkeit scheuten.
Er verstand sie gut. Es gab nichts in dieser unerbittlichen Natur, was zum Nachdenken in Einsamkeit einlud. Nur gemeinsam mit anderen überlebte ein Eskimo. Einsamkeit bedeutete in der Eiswüste den Tod. Oder Wahnsinn. Und doch hatten die Einheimischen ein Wort für diese seltene Art von Menschen, die sich von der Gemeinschaft abwandten. Qivitoq nannten sie jemanden, der menschenscheu und melancholisch in den Fjells verschwand, um allein zu bleiben. Unglückliche Familienverhältnisse oder Schuldgefühle konnten die Ursache für diese einsamen Fjellwanderer sein. Was immer es auch gewesen sein mochte, Qivitoqs wurden als gestörte Wesen angesehen, die man mit Furcht und Verachtung beäugte.
Einem Qivitoq war Carl niemals begegnet, obwohl man ihm einmal weit oben auf einer Felskante eine kaum wahrnehmbare Gestalt gezeigt hatte. Es hieß, dort ginge ein Qivitoq um. Ihn schauderte, als er den schwarzen wandernden Fleck mitten in der Eiswüste entdeckte. Hätte er den Qivitoq auf einem Bild gezeigt, hätte der Betrachter ihn für einen Klecks oder ein Loch in der Leinwand gehalten.
Auf seinen Bildern unterschieden sich die Eskimos nicht. Ihre Gesichter blieben fast eine Art Zubehör für die Körper. Es gelang ihm nicht, individuelle Charakterzüge einzufangen, egal, ob er ausgelassene Grönländerinnen in einem Frauenboot auf dem Wasser malte, eine Gruppe, die einen Berghang hinuntersprang oder in einer Reihe einem Sängerwettbewerb der Schamanen zuhörte. Es wurde ihm zur reinen Routine, die runde mongolische Kopfform wiederzugeben, die schmalen Schlitze der Augen, die hohen, von einer dicken Fettschicht überzogenen Wangenknochen, das drahtige, immer gleich schwarze Haar, auch dies ohne individuellen Fall oder Farbe. Er malte die Eskimos am liebsten aus einer gewissen Distanz, und auch darin spiegelte sich ein sehr realistisches Verhältnis. Wirklich nah kam er ihnen nie.
Ein paarmal hatte er es versucht, aber jedes Mal musste er auf halbem Weg aufgeben. Nur ein einziges Porträt hielt er für gelungen. Es handelte sich um ein kleines Mädchen, das seine mit Perlen bestickte Nationaltracht mit Pelzkragen und Stoffmütze trug. In Ingemanns Roman über Grönland hatte er gelesen, dass ein Eskimo weiß geboren wird und die dunkle Hautfarbe von einem blauen Fleck auf der unteren Rückenhälfte herrührt, der mit den Lebensjahren größer wird und sich ausbreitet, bis der gesamte Körper eine dunklere Farbe angenommen hat. Eine Wahrheit, die auch für ihre seelische Entwicklung galt. Kinder waren überall auf der Welt gleich. Erst später entwickelten sich die ausgeprägten Züge ihrer Rasse. Die Kultur formte die Seele, und die Menschen wurden sich fremd.
Sein Porträt zeigte ein solches Bild – geschaffen noch vor dem Moment, in dem ein universelles Menschenkind eins mit seiner Kultur und damit zum Eskimo wurde. Zurückhaltung spiegelte sich in dem kleinen Gesicht, in den aufmerksamen Augen möglicherweise auch eine Spur von Furcht beim Anblick des weißen Mannes, der ihr mit sonderbaren Gerätschaften in den Händen gegenübersaß. Und hatte der kleine Mund nicht auch mit diesem Zucken begonnen, das die Tränen ankündigte? Vor allem aber drückte dieses Gesicht Unschuld aus. Ihr Name war Maliáraq gewesen, kleine Marie.
Nach zwanzig
Weitere Kostenlose Bücher