Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Herausforderer nur ungern an Land entkommen ließ. Hier gab es keine dramatischen Strandungen, keinen Kampf auf dem Meer, der vom Land aus beobachtet werden konnte, keine Ertrunkenen, die in einer Prozession durch die Straßen der Stadt getragen wurden, keinen Toten, der mit nassen Kleidern auf dem großen Wohnzimmertisch aufgebahrt wurde, keine Trauernden, die einen Kreis um einen Menschen bildeten, der noch vor wenigen Stunden unter den Lebenden geweilt hatte.
    In Gedanken ging er Michael Anchers Motivkreis durch. Keines dieser monumentalen Bilder hätte in Marstal geschaffen werden können. Sicher, auch Marstals Seeleute ertranken. Aber sie blieben draußen auf See, Hunderte, zum Teil Tausende von Seemeilen entfernt. Auf dem Meer, das sich vor der schützenden Natursteinmole des Hafens ausbreitete, spielten sich keine Dramen ab. Hin und wieder lief ein Schiff bei Niedrigwasser auf Grund, wurde aber sofort wieder freigeschleppt. Markante und urwüchsige Gesichter gab es genug, auch solche, in denen die Trauer ihre tiefen Furchen hinterlassen hatte, aber es ereignete sich nichts Dramatisches, keine Zusammenstöße zwischen Leben und Tod – nichts von dem gewalttätigen Überlebenskampf, der die Menschen stählte und veredelte und an dem Skagen so reich war.
    Also musste er nehmen, was er bekam. Er stellte das Leben des Volkes dar. Er malte die Hochzeitsprozession eines Schiffsreeders in den Straßen der Stadt, aber im Grunde richtete er die Energie seines Pinsels vor allem auf das Licht im weißen Kleid der Braut und auf das Schattenspiel an den gelb gekalkten Mauern und auf dem Kopfsteinpfaster. Die Sonne schien hübsch durch eine Dannebrogsfagge, die an einer Mauer hing. Der alte Lehrer Isager kam mit seiner Schwiegertochter am Arm auf den Betrachter zu. Einst hatte er den Jungen der Stadt das Leben zur Hölle gemacht. Nun war er Teil des Lichtspiels in den Straßen, sanft schien die Sonne auf das zwischen dem weißen Backenbart erhobene Gesicht.
    Carl malte eine Bootsfahrt zum Friedhof einer der Nachbarinseln, Drejø. Aber auch dieses Motiv lieferte eher einen Ausschnitt aus dem Leben des Volkes als etwas wirklich Elementares vom Daseinskampf oder ein Grundgefühl wie Trauer oder Sehnsucht. Die runden Hüte der Männer, die steifen Kragen und der Sonntagsstaat standen zudem in einem komischen Kontrast zu den schlaffen Segeln und zum Eintauchen der Ruder in das spiegelblanke Meer. An dem Porträt des Ausrufers Kjellerup, der an der Ecke Teglgade und Filosofgangen mit seiner Trommel bekannt gab, dass die Steuern fällig waren, interessierten ihn am meisten die roten Ziegel der steilen Dachrücken und die blühenden Fliederbüsche. Lag seine Stärke als Maler vielleicht hier, in seinem Interesse am Spiel des Lichts?
     
    Einige Jahre war Carl überzeugt, dass niemand vor ihm wiedergegeben hatte, was er malte. Erst allmählich wurde ihm klar, dass ihm etwas Entscheidendes fehlte. Er war kein Maler von Menschen. In seiner Jugend hatte er eine Reihe ordentlicher Porträts geschaffen. Am besten waren ihm vermutlich die Selbstporträts gelungen. Bei ihnen hatte er etwas erfasst: diese merkwürdige Mischung aus Verletzlichem und Herausforderndem, die so charakteristisch ist für die Jugend. Aber sonst hatten seine Porträts etwas Steifes und Starres. Versagte hier sein Blick? Führte die Beschränkung des eigenen Geistes zu einer Begrenzung auf der Leinwand?
     
    Carl hatte geglaubt, die Seeleute in Marstal besäßen wie die Fischer auf Anchers Bildern eine Einsicht in das Dasein, eine Form von menschlichem Adel und eine Einfachheit, die seinem eigenen komplizierten und nervösen Seelenleben so fernlag. Er sprach mit ihnen, doch er hörte lediglich praktische und nützliche Überlegungen zu ihrem Beruf. Sie erwiesen sich als Experten für den Weltmarkt und die Frachtraten zu den fernsten und exotischsten Zielen. Er erinnerte sich an Onkel Ras’ herablassendes, aber genaues Urteil über die Einwohner von Ærøskøbing, dass es ihnen an Unternehmensgeist fehlte. Ja, die Marstaller erwiesen sich durchaus als umtriebig und robust. Und sie waren hart und rücksichtslos, nicht zuletzt sich selbst gegenüber. Aber hatten sie mehr zu bieten?
    Hin und wieder begegnete er auf der Straße einem der Jungen aus dem Sommer vor langer Zeit. Jetzt kamen ihm vierschrötige Männer entgegen, die ihn mit einem festen Händedruck begrüßten und mit ihm redeten, als ob nichts zwischen ihnen geschehen wäre. Als hätte er ihnen nie etwas

Weitere Kostenlose Bücher