Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
einen höheren Sinn – ist es nicht das, was ihr sagen wollt? Aber wenn’s sich nun genau umgekehrt verhält – was ist, wenn’s so wäre, ja, verzeih mir die ungeschickte Formulierung …«
Er blickte auf den Tisch, als hätte er den Schluss seines Satzes vergessen und suchte ihn nun in dem Weinfeck vor sich. Er fuhr mit einem Finger darin herum und zog Striche über den glanzlackierten Tisch.
»Was wäre, wenn es gar keinen höheren Sinn gibt, sondern nur einen niedrigeren? Was wäre, wenn dieser pädagogische Pfeil auf euren Gemälden immer in die falsche Richtung gezeigt hat und die Wahrheit gar nicht in der Höhe, sondern am Boden zu finden ist?«
Seine Finger zuckten zu der bereits halb leeren Flasche vor ihm.
»Dort zum Beispiel.« Er zeigte mit der ganzen Hand auf den Teil seines Körpers, der sich unter dem Tisch befand. »Oder dort!«
Seine geballte Faust schnellte auf und nieder, als wäre sie ein Hammer, mit dem er einen Nagel einschlagen wollte.
»Oder da unten! Ja, ich meine nicht den Fußboden, sondern die schwarze Erde, in der wir früher oder später alle enden werden.«
Carl zog sich zwei Schritte zurück. Niemand von den übrigen Gästen schien den Auftritt zu beachten. Sie hatten sich offensichtlich an Hinrichsen gewöhnt.
»Sie sind ein unglücklicher Mensch«, sagte Carl. »Sie tun mir leid.«
C arl hatte nicht das Gefühl, nach Hause zu kommen, als er an der Dampskibsbro in Marstal an Land ging. Die beiden Städte Marstal und Ærøskøbing waren, obwohl sie nur anderthalb Meilen voneinander entfernt lagen, so verschieden, dass jede auf einem anderen Kontinent hätte liegen können. Aber ein Ankommen war es dennoch, ein geistiges Ankommen. Ein Künstler hatte seine Bestimmung gefunden. Das Versprechen, das ihm das Leben gegeben hatte, als er auf der Spitze des Lindesbjergs stand, war in Erfüllung gegangen. Mit einer Sache hatte Hinrichsen recht behalten: Er hatte das Schwert aus dem Stein gezogen.
Es war der selbstsicherste Moment seines Lebens.
Er kam, um zu bleiben.
Das Haus in Marstals Teglgade wurde nach Plänen errichtet, die Carl selbst gezeichnet hatte. Das Haus hatte seinen eigenen Brunnen, und er hatte eine Wasserleitung in den Keller legen lassen, in dem es einen Waschraum und eine Küche gab. Das Atelier wurde im ersten Stock eingerichtet. Licht strömte durch ein westwärts gerichtetes, großes, schräges Fenster, das den größten Teil des Daches ausfüllte. Ein handbetriebener Fahrstuhl führte hinauf zum Atelier, sodass er seine großen Leinwände mühelos in die erste Etage transportieren konnte. Die übrigen Räume des Hauses waren hoch und mit schmalen Fenstern ausgestattet, die dicht über dem Boden begannen und bis zur Decke hinaufreichten. Er kopierte damit das Chorfenster der Kirche auf Hvalsø. Er wusste, dass die Leute in Marstal über die merkwürdige Architektur redeten. Die Idee mit den hohen Fenstern verstanden sie nicht. Sie blieb sein Geheimnis.
Ihre Tochter Helga war damals vier, Ellen drei und Jens Christian, der von seinen beiden älteren Schwestern regelrecht tyrannisiert wurde, erst ein Jahr alt. Anna Egidias Mutter hatte ihre Lebensfreude wiedergewonnen, seit sie Großmutter geworden war, nur die verwachsene Dorothea kränkelte weiterhin und hatte für die lärmende Kinderschar lediglich ein blasses Lächeln übrig, bevor sie sich wieder auf ihren ständig schmerzenden Körper konzentrierte. Als die Familie nach Marstal zog, war Anna Egidia erneut schwanger. Die Kinder konnten sich in dem weitläufigen Garten austoben, der sich bis hinunter zum Strand erstreckte. Von hier aus war das Inselmeer und H. C. Christensens große Werft zu sehen. Auf der anderen Seite des Hauses lag ein weitläufiger Hof, eingefasst von gelb gekalkten Mauern. Am Nachmittag fiel die Sonne in den Hof, in dem man stets Schutz vor dem Wind fand.
Und Anna Egidia verstand es, ein Heim einzurichten. Es gab Sofaecken und Chaiselongues, auf denen Carl sich nach den Anstrengungen im Atelier ausruhte oder die Kinder um sich herum versammelte, um ihnen vorzulesen. An den Wänden hingen seine Gemälde in vergoldeten Rahmen. Sonnenschimmer über dem Meer, Wolkenformationen, Schoner auf dem Wasser, im Hintergrund die Küsten des Inselmeers, treibende Eisberge, ein Eskimo, der auf Skiern einen schneebedeckten Berg hinabfährt, das Porträt von Maliáraq – Fenster zu nahen und fernen Orten, aber auch Einblicke in seine eigene Seele, die so eng mit all diesen Landschaften
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