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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sofort, dass es hier keine weibliche Hand gab. Die Fensterbänke leer, es gab weder Pelargonien noch Geranien; einfache Möbel, kein Teppich auf dem mit Firnis überzogenen Fußboden. Ein rot lackierter Bücherschrank aus China stand voller Bücher. Carl hatte das Gefühl, eher eine Unterkunft als ein Heim zu betreten, denn es kam vor, dass Albert jahrelang nicht nach Hause zurückkehrte.
    Wie all die anderen Wohnungen, in denen Carl zu Besuch gewesen war, stand auch diese voller Dinge, die er im Stillen als Götzenbilder verurteilte. Albert zeigte ihm seine Mitbringsel und beschrieb mit naiver Aufrichtigkeit ihre Herkunftsorte. Der Strahlenglanz des Abenteuers haftete noch immer an ihnen, wenn er sie in seine Hände nahm und erzählte. Er besaß eine griechische Amphore aus Kefalos aus der Zeit um Christi Geburt, einen Marmorsplitter von der Akropolis und Mosaiksteinchen aus Pompeji und dem Apollotempel aus Delos – ein kleines antikes Museum. Außerdem standen Modelle von Auslegerbooten aus Madagaskar, den Philippinen und Ceylon in der Wohnung. Albert wies sachkundig auf die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Bootskonstruktionen hin, die er für unerhört ausgeklügelt hielt.
    »Sie sind Seeleute wie wir«, sagte er.
    Ein Speer von der Goldküste, ein geschnitztes Tablett aus Kaschmir, eine Maske von den Tongainseln, ein Trinkhorn vom Rio Grande, eine Flasche mit farblosem Saragossa-Tang, außerdem noch ein Haifischkiefer und Spazierstöcke, ausgeblasene Seeigel und Delfinschädel – Dinge, die Carl schon oft gesehen hatte und die in den Marstaller Haushalten so obligatorisch zu sein schienen wie die Kaffeekanne und der Kachelofen.
    Unschuldige Reiseerinnerungen? Nein, Götzenbilder. Sie hatten etwas Treuloses.
    Er wusste nicht genau, wem gegenüber, doch allein der bloße Anblick schürte Angst in ihm.
    Den größten Schreck bekam er jedoch, als Albert eine der Schubladen am Boden des rot lackierten Bücherschranks öffnete und einen in schmutzig gelben, zerschlissenen Stoff gewickelten Gegenstand auf den Esstisch legte.
    »Es gibt nicht viele, denen ich ihn gezeigt habe«, sagte er, »aber du bist ja Maler und ein Mensch mit einem offenen Geist. Du wirst das schon ertragen. Denn ein behaglicher Anblick ist der alte Jim wahrlich nicht.«
    Albert wickelte den Gegenstand vorsichtig aus und nahm ihn behutsam in die Hand, bevor er ihn den Blicken aussetzte.
    Carl sprang zurück. Er hielt sich die Hand vor die Augen und stampfte auf den Boden.
    »Nein, nein, nein!«, hörte er sich selbst rufen.
    In Alberts Händen lag ein Menschenkopf, verzerrt und ungeheuerlich in seinem Ausdruck, und doch keine Erfindung eines kranken Geistes, keineswegs geschnitzt, geformt oder sonst irgendwie von einem Künstler bearbeitet. Es war unverkennbar und eindeutig ein Kopf, der irgendwann einmal auf den Schultern eines lebenden, atmenden und denkenden Menschen gesessen hatte. Ein Albtraum, die Botschaft eines dunklen Ortes abseits jeglicher Zivilisation. Für einen Moment beherrschte Carl ein ebenso klarsichtiger wie wahnsinniger Gedanke: Hier offenbarte sich ihm der König jener Unterwelt, in der die Marstaller lebten, wenn sie zur See fuhren.
    Er hörte Albert lachen. Dann spürte er dessen Hände auf seinen Schultern, ließ sich widerstandslos zu einem Stuhl führen und auf den Sitz drücken. Um ihn herum war es vollkommen dunkel. Einen Augenblick glaubte er, erblindet zu sein, schnell wurde ihm klar, dass er mit geschlossenen Augen dasaß.
    »Ich wollte dich wirklich nicht erschrecken. So, setz dich, ich gieße uns einen Port ein. Das wird deine Nerven beruhigen.«
    Carl hörte die Nachsicht in Alberts Stimme. Albert redete mit ihm, als hätte er ein Kind vor sich. Er bekam ein Glas in die Hand und leerte es dankbar in einem Zug. Noch immer hielt er die Augen geschlossen.
    »Na ja, du musst entschuldigen …«, begann er.
    »Nein, ich bin es, der sich zu entschuldigen hat«, sagte Albert. »Jim ist schon ziemlicher starker Tobak.«
    »Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du das da umgehend wieder einpacken könntest, diesen …«
    Er fand nicht das richtige Wort. Noch immer verspürte er heftigen Ekel. In seinem Zustand konnte er nicht entscheiden, ob sich dieses Gefühl auf den Menschenkopf oder auf Albert bezog.
    »Du möchtest, dass ich ihn wegpacke?«
    Carl nickte stumm. Er hörte das Geräusch einer Schublade, die geschlossen wurde, und eines Schlüssels, der sich im Schloss drehte. Erst jetzt öffnete er die Augen.
    »Ich

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