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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Einzigartiges geschenkt und sie ihn nie zum Dank gedemütigt und verprügelt.
    Die Geschichte mit den Eskimos wiederholte sich. Er konnte die Seele der Marstaller nicht finden.
     
    Häufig ging Carl zum Friedhof, dessen Gräber mit Stöcken anstelle von Kreuzen geschmückt waren, und er hatte den Eindruck, als fände er hier eine gewisse Erklärung. So viele starben, ohne wirklich begraben zu werden.
    »Was ist die Sprache des Todes?«, dachte er.
    Ist es nicht der Tote selbst, das Leichentuch, in das er gewickelt wird? Der Leichenzug, der in Marstal von vier weißgekleideten kleinen Mädchen angeführt wurde, die mit schwarzem Flor umwickelte Körbe trugen, aus denen sie Grünes auf die Straße streuten? Die Rede des Pastors, der Grabstein, die Blumen auf dem Grab, die Besuche auf dem Friedhof?
    Aber was ist der Tod ohne den Toten?
    Der Friedhof in Marstal war ein Friedhof der leeren Särge. Die Toten blieben draußen auf See, und wenn sie begraben werden sollten, dann in leeren Särgen und mit einem Grabstein, in den statt eines Sterbedatums eine Positionsbestimmung eingemeißelt war, westliche oder östliche Länge, nördliche oder südliche Breite.
    Sollte seine Aufgabe darin bestehen, die leeren Särge zu füllen?
     
    Nicht das Meer, das die Marstaller von ihren Giebelfenstern aus sehen konnten, nahm ihnen ihre Liebsten. In diesem freundlichen Binnenmeer zwischen üppig grünen Inseln ertranken nur wenige. Hier peitschte kein Sturm die Wellen zu gefährlichen Höhen auf. Hier schwappte die Brandung an den Strand. Nicht wie in Skagen, wo die Fischer ihre Boote durch eine kochende Gischt ziehen mussten, das Meer unbarmherzig nahm und gab. Es nahm Menschen, es gab Fische und brachte die Ertrunkenen stets wieder an das Ufer zurück, von dem sie aufgebrochen waren. Die See spülte sie an wie eine Quittung für das Leben, das sie genommen hatte. In Skagen waren die Fischer fromm und urteilten hart, aber sie sangen auch, sie beichteten und redeten in Zungen. Sie wollten das Meer übertönen.
    Das Meer der Marstaller stellte keine Quittungen aus. Die Marstaller ertranken nicht zwischen den grünen Inseln, wo der Sandboden mit einem gelben Leuchten antwortete, wenn die Sonne schien. Sie verschwanden einfach und kamen niemals zurück. Sie sanken vor der Felsküste Neufundlands, sie schwammen mit dem Kopf nach unten in das Delta des Rio Plata, sie wurden an einen Strand der Südsee gespült. Sie fuhren zur See und blieben jahrelang fort. Jeder Abschied bedeutete eine Generalprobe für das Sterben, jeder Brief eine Auferstehung und die sprachlose Zeit zwischen den Briefen eine Geduldsprobe. Irgendwann kam der letzte Brief, und dann folgte ein Schweigen, das sich wie die Ewigkeit dehnte. Sie starben einen Tod, der einfach Abwesenheit hieß, und hinterließen ein Vakuum ohne Nachrichten. Sie starben einen Tod ohne Sprache, ohne Leiche, ohne Blumen streuende Mädchen, ohne Begräbnis, ohne ein Grab, auf das sich Blumen pfanzen ließen. Sie starben einen Tod, bei dem auch die Hinterbliebenen verstummten und die Kirche halb leer blieb. Die Seelen der Hinterbliebenen knieten am Strand und den Blick hielten sie aufs Meer gerichtet, nicht auf den Altar, als würde Gott ihnen eine Antwort auf ihre Fragen verweigern.
    Aber eine Gestalt, die vor dem Meer kniete, hatte Carl nie gemalt.
    Lag es daran, dass er nicht wusste, was sie suchten, wenn sie über das Meer blickten?
     
    V on ihren Reisen übers Meer brachten die Seeleute aus Marstal merkwürdige Dinge mit.
    Präkolumbianische Tonkrüge, die huachos genannt wurden. Buddha-Figuren aus Bangkok, chinesische Porzellanpuppen und Essstäbchen, eine Halskette aus Antilopenhaut aus Nubien, Krummsäbel aus Westafrika, Harpunen aus Feuerland, Bumerangs aus Australien, Kalabassen vom Rio Hash, indische Amulette, ausgestopfte Alligatoren, eine Reitpeitsche aus Brasilien, ein ledernes Tamtam mit Trommelstöcken vom Calabar River, Opiumpfeifen, türkische Wasserpfeifen, einen Lendenschurz vom Pazifischen Ozean, ein Gürteltier vom La-Plata-Fluss, Jagdgeräte eines Pygmäenstammes, Flusspferdzähne, giftige Pfeile des Sakau-Stammes in Zentralmalakka, Bambusstöcke mit verborgenen Stahlklingen, aus der Rückengräte eines Haifischs geschnitzte Spazierstöcke, den Zahn eines Sägerochens, ausgeblasene Seeigel, getrocknete Seesterne, Delfinschädel, Haifischkiefer, Hummerscheren aus der Barentsee und versteinerte Korallen.
    Überall waren sie gewesen. Und ihre merkwürdigen Reiseerinnerungen

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