Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
verbunden war.
Die Gemälde waren Anna Egidias Idee gewesen. »Die Liebe ist die Schule der Weiblichkeit.« Das hatte er ihr in einem Brief aus London geschrieben, und seiner Ansicht nach war ihr Heim in Marstal der Beweis dafür. Es gehörte nicht ihm oder ihr. Es gehörte ihnen beiden. Er hatte das Haus entworfen, und sie erfüllte es mit Leben.
In diesen Jahren gab es eine Balance in seinem Leben. Anna Egidia war nicht mehr die kleine Schwester, das elternlose Mädchen mit dem verzehrenden Blick. Carl dachte selten an Henrietta, und wenn, dann geschah es, weil er sich wünschte, sie hätte erleben können, wie gut er zurechtkam, auch ohne sie.
Seine Sehnsucht hatte ihr eigenes Muster. Ging es ihm gut, vermisste er Henrietta nicht. Doch wenn es ihm schlecht ging, erwachte die Sehnsucht schmerzvoll zum Leben und er sah nur Anna Egidias Unzulänglichkeit.
Carl kaufte Anteile an einer Reihe von in der Stadt registrierten Schiffen und wurde Reeder des Dreimastbramsegelschoners Henrietta. Den Namen hatte Anna Egidia vorgeschlagen, als einen rührenden Beweis ihrer Selbstlosigkeit hatte er ihn akzeptiert.
Sein Ruf hatte sich inzwischen bis nach England verbreitet. Der dänische Konsul in Newcastle hatte eine Ausstellung seiner Bilder organisiert und einige selbst gekauft. In London arbeiteten zwei Kunsthändler für ihn. Auch an der Weltausstellung 1878 in Paris hatte er teilgenommen, allerdings ohne großen Erfolg. Carl hatte sich die Niederlage dennoch nicht sonderlich zu Herzen genommen. Denn die versammelte dänische Kunst war von der strengen französischen Kritik in Bausch und Bogen verworfen worden; in den Kritiken hieß es, wenn man die dänische Kunst mit einer Farbe charakterisieren sollte, dann müsste es Schwarz sein. Carls Bilder verkauften sich gut. Das allein zählte.
Die Hungerjahre in Kopenhagen hatten ihn geprägt. Nun musste er sich selbst und der Welt beweisen, dass er sein Leben meisterte. Der Künstler sollte sich nicht mit der Gesellschaft überwerfen. Er hatte ein Teil davon zu sein, und Carl verstand sich als Künstler und Ernährer. Überhaupt vertrat er die Ansicht, dass der Mensch nicht nur für sich allein zu leben hatte. Noch immer klangen die Worte, die er von der Kirchenkanzel in Ærøskøbing gehört hatte, in ihm nach. Die Menschen, die keine andere Liebe als die Eigenliebe kannten, konnte er nur bedauern, sie würden nie verstehen, dass es gut und schön sein konnte, die eigenen Vorlieben hintanzustellen, um anderen Menschen eine Freude zu bereiten. Er hatte eine Frau, eine Schwiegermutter, eine kränkliche Schwägerin und eine größer werdende Schar von Kindern in seinem Haus, und er war stolz, dass er ihnen mithilfe seiner Kunst ein gutes Leben ermöglichen konnte. Im Grunde war die Ankunft in Marstal der stolzeste Augenblick seines Lebens gewesen.
Die Seeleute der Stadt hätten sicher gesagt, er bekäme den Wind immer von achtern in die Segel. Mit anderen Worten: Ihn trieb ein günstiger Wind. Als er in die Stadt kam, wurde er von der Selbstsicherheit getragen, die Anerkennung und erhebliche, stabile Einnahmen geben können. Für ihn waren es zwei Seiten derselben Medaille. Trotz aller Anerkennung hatte er nie wie Frederik Aagaard daran gedacht, sich lediglich dem Publikumsgeschmack anzupassen und seine Bilder zugänglicher zu gestalten. Nein, er sah etwas und gab seine Sicht weiter. Es handelte sich um eine Art Gemeinschaft, die er vor seinen Gemälden schuf. Verkaufte er Bilder, so war es ihr Schicksal, in alle Winde verstreut zu werden. Aber die Mission seiner Bilder beinhaltete das genaue Gegenteil: Sie sollten die Menschen vereinen.
So kam er nach Marstal: Wie in ein unsichtbares Land, das hinter einer Nebelbank verborgen lag; und sein Pinsel löste den Nebel auf und ließ das Land sichtbar werden. Die Malerei erwies sich als der wahre Spiegel des Lebens. Was zeigte die Fotografie? Einen Ausschnitt. Die Malerei zeigte das Ganze.
Dennoch enttäuschte ihn Marstal. Carl konnte nicht einmal mit dem Finger auf eine bestimmte Ursache zeigen. Vielleicht hatte er etwas an sich, das andere abstieß. Jedenfalls handelte es sich bei Marstal nicht um Skagen, und das wurde ihm sehr schnell klar. Hier gab es nur diese freundliche Idylle, die er im Grunde liebte, die aber keine tragfähigen Motive für einen Maler lieferte, der den großen Zusammenstoß zwischen Mensch und Natur beschreiben wollte. Hier gab es keinen Strand mit einer gewaltigen Brandung, die ihre
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