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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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vorbei.
    Carl begann, in die Wirtshäuser zu gehen, um nach Jesus zu suchen. Der Gedanke hatte ihm zunächst widerstrebt. Aber dann dachte er sich, dass Jesus mit Zöllnern und Sündern verkehrte. Wollte er besser sein als der Erlöser?
    Er fand ihn in einem Wirtshaus in der Kongegade, direkt gegenüber der Kirche. Der Bart des Wirts fesselte seinen Blick, ein geteilter Bart, der ihm in zwei Zungen über die Brust fiel. Das schmale Gesicht des Wirts wurde von einer geraden Nase und klaren Augen veredelt. Die kurzen Haarstoppeln standen aufrecht in der Luft. Eine derartige Frisur konnte Jesus natürlich nicht tragen, hier musste er etwas ändern. Schon bald fand Carl heraus, dass Jesus Wesen nicht seinem Äußeren entsprach.
    Als Carl sich vorstellte, erwiderte der Wirt nichts. Verblüffung beherrschte seinen Blick. Solche Gäste war er in dem engen, niedrigen Lokal voller Tabakqualm nicht gewohnt, in dem L’hombre spielende Männer lärmten, die ihre Karten auf den Tisch knallten und sich lautstark über den Einsatz stritten.
    »Wünschen der Herr etwas zu trinken?«, erkundigte sich der Wirt schließlich höfich.
    Carl schüttelte den Kopf. Dann brachte er sein Anliegen vor. Der Wirt, der auf den Namen Johan Lorentzen Reimer hörte, schien völlig unbeeindruckt, als wäre es eine geradezu alltägliche Angelegenheit, dass er von jemandem gebeten wurde, als Jesus Modell zu sitzen.
    »Das kostet fünfundzwanzig Øre die Stunde«, sagte er.
    Carl stutzte. Er hatte Verlegenheit oder stumme Überraschung erwartet, vielleicht sogar Demut oder ein frommes Nein, aber nicht diesen trockenen, geschäftsmäßigen Ton. Selbstverständlich konnte er den verlangten Betrag bezahlen, obwohl er für das Altarbild kein Honorar vereinbart hatte. Er malte die Tafel als Geschenk an die Stadt und war der Ansicht, dass es hier ums Prinzip ging. Carl erläuterte dem Wirt, der ihm wortlos zuhörte, seine Haltung. Als Carl seinen Vortrag beendet hatte, schaute er den Wirt abwartend an.
    »Es kostet fünfundzwanzig Øre die Stunde«, sagte Reimer.
    Carl breitete resignierend die Arme aus.
    »Nun denn, dann soll es wohl so sein, wenn Sie wirklich kein größeres Verständnis für diese Angelegenheit aufbringen.«
    Reimer schien die Bemerkung zu überhören und ging hinter den Tresen, wo er ein Rechnungsbuch hervorholte. Er notierte sich den Tarif.
    »Sie dürfen sich mit der Bezahlung ruhig Zeit lassen«, sagte er und schloss das Buch wieder.
    Und noch bevor Carl protestieren konnte, hatte der Wirt nach einer Flasche bayerischem Bier gegriffen und sie geöffnet. Er schenkte zwei Gläser ein.
    »Stoßen wir an, auf die Altartafel.«
    Carl wollte nicht unhöfich sein und hob das Glas mit einem widerstrebenden Gruß.
    »Tja, eigentlich bin ich nicht sonderlich fromm«, sagte Reimer. »Wie Sie sehen, betreibe ich ein Wirtshaus. Ich mach auch Musik. Also keine Kirchenmusik, obwohl es schon vorgekommen ist, dass der Organist mich gebeten hat, ihm zur Hand zu gehen. Eigentlich eher auf Festen. Ich spiele alles ein bisschen, aber am besten gefällt mir der Bass. Die Leute nennen mich Brummbass. Gelernt habe ich Schreiner, aber man muss ja leben. Zeichnen kann ich übrigens auch.«
    Er stand auf und verschwand durch die Hintertür in eine Schreinerwerkstatt. Kurz darauf kam er mit einer Papierrolle unter dem Arm zurück. Er faltete einen der Bögen auseinander und legte ihn auf den Tisch, wo das Papier sofort von einer Bierpfütze durchweicht wurde. Er ließ sich nicht davon stören. Carl starrte auf die Zeichnung. Es handelte sich um ein Selbstporträt, und die Ähnlichkeit war nicht nur verblüffend. Reimer hatte Jesus in seinem eigenen Gesicht gefunden. Diesen Jesus sah Carl vor sich, wenn er sich vor seinem inneren Auge die Altartafel vorstellte.
    Vermutlich hatte Reimer vor einem Spiegel gesessen, aber er hatte nicht das gezeichnet, was er sah. Er hatte sein Innerstes gezeichnet. Carl starrte den Wirt an. Er begriff, dass das Gesicht, das er ihm bisher gezeigt hatte, nur eine Farce war, und dass sich hinter dem leichtfertigen Gerede und der unverschämten Honorarforderung ein ernsthafter und suchender Mensch verbarg.
    Das Porträt hatte ein ungebildeter Mensch gezeichnet, der nie den langen, beschwerlichen Weg mit Zeichenlehrern und Akademie gegangen war, um sein Können zu erwerben, und doch war er Carl ebenbürtig.
    »Wieso starren Sie mich so an?«
    »Nun ja, es ist verblüffend. Ihr Talent ist ganz außergewöhnlich.«
    »Was? Ach so, Sie

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