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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dachte, es würde dich interessieren. Als Maler meine ich. Bist du nie in Anatomievorlesungen gewesen? Du hast doch bestimmt schon mal einen Toten gesehen? Köpfe, deren Haut abgezogen wurde, damit man die Muskeln und Sehnen darunter studieren kann?«
    Carl schüttelte den Kopf. Er hatte in einem Alter Aktmodelle gezeichnet, in dem er so unerfahren war, dass das entblößte Fleisch nicht nur eine malerische Herausforderung bedeutete. Aber er hatte nie eine Anatomievorlesung besucht. Wieso sollte er einem Menschen unter die Haut sehen wollen? Die Seele, nach der er suchte, saß dort gewiss nicht. Dieses Dänemark, das er schildern wollte, fand sich nicht im Inneren eines Körpers, in freiliegenden Muskeln oder in verschlungenen, blutigen Eingeweiden. Das war ein Gebiet für Ärzte und Wissenschaftler, nicht für Künstler.
    Er wusste, dass der französische Maler Théodore Géricault Leichenhäuser besuchte und zu Anatomievorlesungen ging, um den menschlichen Körper in allen Stadien seiner Aufösung kennenzulernen. Carl hatte sein Gemälde Das Floß der Medusa in Paris gesehen und ihn für seine monumentale Schilderung des Leides, der Aufgabe und der Hoffnung bewundert. Gleichzeitig hatte er aber gespürt, dass dieser Maler sich in einem gefährlichen Grenzland bewegte, wo er selbst nichts zu suchen hatte. Und mit diesem fürchterlichen Kopf wollte er nichts zu tun haben.
    »Es ist ein Schrumpfkopf«, erklärte Albert. »Völlig normal im Gebiet des Stillen Ozeans. Eine Siegestrophäe. Ich hab ihn von einem Weißen geerbt.«
    Er begann mit einer Geschichte, die klang, als wäre sie im Inneren dieses fürchterlichen Kopfes entstanden, voller Hass, Finsternis und Gewalt. Albert endete mit der Behauptung, dass es sich bei dem Kopf um die irdischen Überreste des englischen Entdeckungsreisenden James Cook handelte, ein Umstand, der in Carls Ohren der ohnehin schon unwahrscheinlichen Geschichte jedwede Glaubwürdigkeit nahm. Der Mann erdichtete ja einen ganzen Roman und dazu noch einen derart wüsten und geschmacklosen Roman, als hätte er keinerlei Respekt vor der Urteilskraft seines Gastes.
    Albert nannte den Schrumpfkopf Jim.
    »Hin und wieder nehme ich Jim heraus und schaue ihn mir an«, sagte er. »James Cook hat große Teile des Stillen Ozeans kartografiert und der Hälfte der Inseln einen Namen gegeben. Sein Name wird immer lebendig bleiben, auch auf den Seekarten. Und wie sieht er jetzt aus? Er hilft mir, mich daran zu erinnern, dass wir nur kurze Zeit hier auf Erden sind.«
    »Aber die Seele lebt ewig.«
    Carl versuchte, das Thema zu wechseln. Er war entsetzt, nicht nur über die offensichtlichen Lügen in der Geschichte, die er gerade gehört hatte, sondern auch über die Ruhe, mit der Albert sie erzählte. Man erzählte eine Geschichte, um mit anderen etwas zu teilen, aber wie es aussah, gab es in dieser Geschichte nichts, was Albert und er hätten teilen können. Hatten sie überhaupt etwas gemeinsam?
    Und dann sagte er den Satz über die Ewigkeit der Seele. Es war der letzte Rest an Gemeinschaft, der ihm einfiel, der Glaube. Es handelte sich um eine einfache, ja beinahe treuherzige Aussage. Aber gerade das Einfache und Treuherzige suchte er doch in den Menschen.
    Carl fühlte sich beschmutzt. Und er bat Albert mit seinen Worten über die ewige Seele, ihm zu helfen, sich von dem Schmutz zu befreien. Sag, dass auch du glaubst. Lass uns doch wenigstens diese Gemeinsamkeit teilen.
    Er verteidigte sich und sein Werk.
    »Davon verstehe ich nichts«, erwiderte Albert sachlich. »Ich sehe, wie Menschen im Meer verschwinden oder in die Erde gelegt werden. Ich kann nicht bis auf den Grund des Meeres oder ins Erdinnere sehen. Ich weiß nicht, was sie dort machen. Die Augen sind der Spiegel der Seele, heißt es. Ich sehe James Cooks zusammengenähte Augenlider und weiß, dass nichts mehr dahinter ist. Als würde man durch die Fenster eines unbewohnten Hauses schauen. Die Stechpalme im Garten hinter meinem Haus ist älter als ich, und wenn ich sie nicht fälle, wird sie noch dort stehen, wenn ich sterbe. Mein chinesischer Schrank da drüben ist älter als ich, und eines Tages, wenn ich tot bin, wird er sicher in der Wohnstube eines anderen stehen. Das ist alles, was ich weiß.«
    Carl hatte wieder dieses Gefühl, einem weit älteren und erfahreneren Mann gegenüber zu sitzen, obwohl doch er der Ältere von ihnen beiden war. Albert sprach mit einer Autorität, die Carl nie besessen hatte. Sicher, im Gegensatz zu Albert

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