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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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hatte er seinen Glauben. Aber auch er zweifelte. Gehörten die beiden Dinge zusammen?
    Carl erinnerte sich an den eigentlichen Anlass seines Besuchs und war dumm genug, ihn anzusprechen. Eigentlich wollte er nur diese Unterhaltung beenden, die er aus ihm nicht erklärlichen Gründen als immer quälender empfand. »Eigentlich bin ich ja gekommen, um dich zu fragen, ob ich ein Porträt von dir malen darf.«
    Albert saß eine Weile da und sah aus, als würde er über den Vorschlag nachdenken.
    »Unter einer Bedingung«, sagte er schließlich.
    »Sag es. Wenn ich sie irgendwie erfüllen kann.«
    »Ich will mit Jim gemalt werden.«
    »Mit Jim?«
    Carl war wie gelähmt. Diese Wende hatte er nicht erwartet.
    »Mit Jim«, wiederholte Albert ruhig. »Meinem Memento mori. So kannst du übrigens auch das Bild nennen. Er bedeutet mir etwas.«
    Er blickte Carl an und bemerkte den Abscheu in dessen Gesicht.
    »Ich sage das nicht, um dich ärgern«, sagte Albert. »Ich hab schon verstanden, dass du ihn nicht magst. Aber ich glaube, es wäre lehrreich für dich.«
    Carl krümmte sich plötzlich zusammen und bekam einen gequälten Gesichtsausdruck.
    »Irgendetwas nicht in Ordnung?«
    »Es ist mein Magen. Hin und wieder geht es mir so. Uhh!«
    Er stöhnte lauf auf.
    »Komm her.« Albert half ihm aus dem Stuhl und brachte ihn zu einer Bank. »Leg dich hin. So, ja.«
    Carl legte sich vorsichtig auf die harte Bank. Mit dem Gesicht zur Wand. Er spürte nichts als einen stechenden Schmerz in seinem ruinierten Magen.
    Er malte niemals ein Porträt von Albert.
     
    Z wei Jahre nach seiner Ankunft in Marstal hatte ihn der Pastor, Thorvald Throlle, gefragt, ob er ein neues Altarbild für die Kirche malen wollte. Die Stadt hätte jetzt schließlich ihren eigenen Maler. Das sollte auch in der Kirche zu sehen sein. Carl empfand es als Auszeichnung und begann sofort mit einer Skizze.
    Während er arbeitete, geschah etwas Merkwürdiges: Ein Wiedergänger schien in seinen Gemälden aufzutauchen. Carl wusste sofort, um wen es sich handelte. Es war die Gestalt am Rande des Meeres, mit dem auf den Horizont gerichteten Blick, die er nie hatte malen können. Nun stand sie dort, wo Jesus hätte stehen sollen.
    Die alte Altartafel zeigte Jesus während der letzten durchwachten Nacht im Garten Gethsemane. Die Tafel hatte zwei Flügel vom selben, längst vergessenen Maler. Die Flügel zeigten Johannes und den treulosen Petrus, beide grau und leblos, als hätte man sie nach Skulpturen gemalt. Und tatsächlich verhielt es sich auch so – ihre Vorbilder waren Thorvaldsens Apostel aus der Vor Frue Kirke in Kopenhagen. Throlle hatte beschlossen, sie hängen zu lassen.
    Das Motiv für das Altarbild hatte Carl selbst vorgeschlagen: Jesus beruhigt den Sturm auf dem See Genezareth. Er hatte ja Erfahrung in der Darstellung des Meeres, und Marstal war eine Stadt der Seeleute. Nun sollte sich die Besonderheit des Orts im Kirchenschiff widerspiegeln. Carl wollte die grundsätzliche Problematik im Leben der Einwohner schildern: das aufgewühlte Meer. Wenn Marstals Bürger zum Gottesdienst kämen, sollten sie sich selbst begegnen, ihrer eigenen Furcht, dem jederzeit drohenden Tod in den aufgewühlten Wogen. Jesus war nicht nur ein Erlöser, sondern ihr Retter.
    Ihre eigenen verklärten Gesichter sollten sie grüßen, wenn sie eintraten und das Kirchenschiff durchquerten. Das mächtigste Element, das sie kannten, das Meer, besiegt von einer noch gewaltigeren Kraft. Nicht die Stärke einer wilderen und brutaleren Naturkraft als die der Wellen, sondern von einer Kraft, die aus ihrem Innern kam. Der Glaube konnte die Kräfte der Natur nicht brechen, doch der Glaube konnte jene Angst besiegen, die die Marstaller in ihrem Geist nährten.
    Einen Augenblick stellte er sich vor, sein Gemälde wäre auch ein Geräusch. Würde man das gewaltige Brausen des Meeres hören, wenn man davor stand? Nein, Stille sollte von seinem Altarbild ausgehen, ein seelischer Meeresblick, der sich nur einstellte, wo der Glaube herrschte.
    Noch gab es diesen künstlerischen Antrieb, den Traum, das Innerste des Menschen zu finden. Carl gestand es sich nie ein, aber genau das wollte er mit seiner Altartafel erreichen. Die Seele der Marstaller hatte er bisher nicht finden können. Jetzt wollte er sie hervorlocken.
    Und nun kam dieser Wiedergänger und stahl sein Altarbild.
     
    Er malte Jesus im Profil, und das war sein Fehler. Damit lud er den Wiedergänger ins Bild ein. Das Boot schwamm beigedreht auf

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