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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dem Wasser, halb seitlich zum Betrachter, der Steven zeigte in die entgegengesetzte Richtung. Jesus stand als dunkle Seitenansicht im Bug und streckte beschwörend die Hände aus. Der Glorienschein um seinen Kopf wurde vom Sonnenaufgang hinter ihm verstärkt. Die Strahlen der Sonne brachen fächerförmig durch eine Schicht von Stratus-, Kumulus- und Nimbuswolken, die sich übereinander türmten und schließlich in Zirruswolken ausliefen. Er hatte die verheißungsvolle Paradiesmauer gemalt.
    In allen Richtungen erhoben sich Wellen als schäumende Berge, sodass der Horizont vollkommen unkenntlich blieb. Das schwer beladene Boot, dessen Reling sich beunruhigend nah am Wasser befand, war voller verzweifelter Menschen, die Jesus fehentlich die Hände entgegenstreckten oder sich mit einem entsetzten, Hilfe suchenden Gesichtsausdruck dem Betrachter zuwandten – als wäre ihre Not viel zu groß, um sie in einem Bild beschreiben zu können.
    Jesus drehte ihnen den Rücken zu. Er schien weniger den Sturm zu beruhigen als in ein Gespräch mit den Wellen vertieft zu sein – als wäre er Teil einer neuen Dreifaltigkeit des Glaubens, bei dem das Meer den Vater ersetzte. Es sah aus, als würde Jesus das Meer um Rat fragen, anstatt es zu beherrschen.
     
    Throlle machte ihn darauf aufmerksam, als er sich auf Carls Einladung den ersten Entwurf ansah.
    »Sie dürfen mich nicht missverstehen«, sagte der Pastor, nachdem er lange vor der Leinwand auf und ab gewandert war. Er blieb mit den Händen auf dem Rücken vor Carl stehen, wobei er zu Boden blickte, als wäre es ihm unangenehm, die Schlussfolgerung, zu der er gekommen war, zu äußern.
    »Ich bin sehr glücklich über Ihre Idee. Es ist ja gewissermaßen eine Auftragsarbeit, aber dennoch bin ich sehr dafür, dass Sie bei der Umsetzung des Motivs freie Hand haben. Die künstlerische Qualität dessen, was Sie hier geschaffen haben, will ich überhaupt nicht anfechten.«
    Er zögerte, und Carl wusste, dass nun das Urteil gesprochen wurde.
    »Ich spreche also nicht als Kunstkritiker zu Ihnen. Das würde ich nie wagen. Sondern als Seelsorger. Ich weiß ja, dass Sie selbst gläubig sind.«
    Carl nickte.
    »Verzeihen Sie mir, Rasmussen, aber in Ihrem Bild kann ich den Glauben nicht finden. Ich sehe Angst und Panik. Ich sehe Zweifel. Aber die Abgeklärtheit des Glaubens sehe ich nicht.«
    Für Carl bedeutete das Urteil beinahe eine Erleichterung. Als würde Throlle ihn mit seinen Worten erlösen. Er wusste es doch selbst genau. Er hatte es nur hören wollen. Es gab einen Wiedergänger in seinem Bild, der vertrieben werden musste, und die Worte des Pastors halfen ihm dabei. Ohne zu zögern, entschloss er sich, die Skizze zu vernichten und mit einer neuen Idee zu beginnen.
    »Ich frage nur aus Neugierde«, sagte Throlle, »aber haben Sie lebende Modelle eingesetzt?«
    »Nein, ich schuf einige Menschentypen, von denen ich meinte, sie wären der Situation angemessen.«
    Er sah die Schwachstellen. Jesus – kaum mehr als eine dunkle Silhouette. Auch die aufgeregten Apostel befanden sich im Schatten. Er war so sehr mit der Suche nach der Seele beschäftigt gewesen, dass er den äußeren Eindruck vergessen hatte.
    Der Pastor war zu höfich, um mehr zu sagen. Beide standen sie schweigend vor der Leinwand, als Carl plötzlich eine Idee kam.
    »Ich glaube, ich werde lebende Modelle hier aus der Stadt nehmen«, erklärte er mit neuem Optimismus in der Stimme.
    »Auch für Jesus?«, fragte der Pastor.
    »Auch für Jesus.«
    Er hatte keine Zeit gehabt, um diese neue Idee zu durchdenken. Nun wollte er konsequent sein.
    »Ist das ratsam? Immerhin ist Jesus Gottes Sohn.«
    »Aber er wurde von einer Frau geboren. Er ist auch ein Mensch.«
    »Sie haben recht. Und wie gesagt: Sie haben freie Hand.«
    »Das menschliche Äußere«, dachte er später. »Jetzt male ich nur das menschliche Äußere. Der Rest muss sich allein einstellen. Und der Wiedergänger wird nicht wieder eingeladen.«
    Ein paar Seeleute hatte er bereits ausgesucht. Bisher hatte ihn irgendetwas zurückgehalten, doch nun hatte er eine gute Entschuldigung, um sie zu bitten, ihm Modell zu sitzen. Mit Jesus verhielt es sich allerdings schwieriger. Die Seeleute zeichnete eine Robustheit aus, die zu Jesus nicht passte. Carl ging durch die Straßen und musterte die Gesichter. Er sah sich während des Gottesdienstes in der Kirche um. An Ende der Messe stellte er sich neben Throlle an die Tür. Wie immer defilierten überwiegend Frauen an ihnen

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