Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
blassen Gesicht von Jesus geradezu in der Farbenpracht Raphaels. Ein bisschen hatte er doch von der Reise nach Italien profitieren können. Er wollte einen Kontrast zu den leblosen Porträts von Petrus und Johannes auf den Altarfügeln schaffen. Sie waren ja nichts anderes als blasse Huldigungen an Thorvaldsens Genie. Aber ging es nicht jedem Künstler darum, seine eigene Auslegung des Erlösers zu finden, seinen eigenen Christus zu schaffen? Daher wagte er es, nach einem lebenden Modell zu malen. Und doch sah er vor seinem inneren Blick ständig Thorvaldsens Christus, dieses erhabene und eindringliche Gesicht voller Trauer und Trost zugleich. Er spürte es jedes Mal wie ein Zittern in der Hand, wenn er sich mit dem Pinsel Jesus Gesicht näherte. Thorvaldsen erdrückte ihn mit einer vererbten Last.
Jeder Pinselstrich bedeutete eine Wahl zwischen Thorvaldsens und Reimers Gesicht, bei dessen Anblick Carl ohnehin nicht sicher war, ob er es verstand oder hindurchsehen konnte.
Bisweilen wurde er von dem Drang gepackt, den Wirt um sein von Bierfecken besudeltes Selbstporträt zu bitten, nur um es zu kopieren. Aber das hätte Betrug bedeutet. Selbstbetrug. Außerdem würde es ihm vermutlich nicht gelingen. Er musste seine eigene Version des Jesus schaffen, und er spürte, wie sich das Zittern der Hand in seiner Seele fortsetzte, wo es zu lähmendem Zweifel wurde.
Carl wurde in diesen Gedanken von Reimer unterbrochen, der von seinem Skizzenblock aufsah.
»So, ich bin fertig«, sagte er und legte den Zeichenblock auf den Boden.
Carl hob den Block auf, Reimer stand bereits mit der Klarinette unter dem Arm an der Tür.
»Die Arbeit wartet«, sagte der Wirt in dem beiläufigen Ton, in dem er stets sprach; als ob er eine Melodie pfiff, während er mit den Gedanken ganz woanders war.
»Ich danke für die Stunde.«
Er ging, ohne Carls Reaktion auf die Zeichnung abzuwarten. Carl sah sie sich an. Reimer hatte etwas erfasst. Er hatte viel zu viel erfasst. Carl sah das Zittern seiner Seele in dem Porträt. In seinem Gesicht entdeckte er Konzentration, aber auch große Unsicherheit. Reimer hatte sein Suchen gesehen. Reimers Porträt erinnerte Carl an das Selbstporträt, das er als junger Mann von sich gezeichnet hatte; die Erinnerung löste in ihm keine Freude oder Sehnsucht aus, eher Irritation. Dieses ewige Suchen. Sollte er denn nie festen Grund unter die Füße bekommen?
In einem plötzlichen Anfall zerknüllte er die Zeichnung und warf sie auf den Boden. Gereizt ging er auf und ab, dann bückte er sich, beschämt über sich selbst, und hob das zerknitterte Blatt auf. Er glättete es sorgfältig und hängte es zu seinen eigenen Entwürfen und Skizzen an die Wand.
Kurz darauf erschien Anna Egidia im Atelier, um ihm mitzuteilen, dass das Abendessen fertig sei. Sie blieb eine Weile vor seiner Leinwand stehen, ohne etwas zu sagen.
»Kommst du voran?«, fragte sie schließlich.
Es war nicht die Frage, die er hören wollte.
»Ein schwieriger Bursche«, erwiderte er kurz angebunden.
Sie drehte sich um und wollte gerade das Atelier verlassen, als ihr Blick auf Reimers Porträt fiel.
»Na so etwas«, sagte sie und schlug die Hände zusammen. »Da hast du dich aber gut getroffen. Du siehst genauso aus, wie ich dich aus der Zeit, als ich ein kleines Mädchen war, in Erinnerung habe.«
Sie kam zurück und strich ihm liebevoll über die Wange.
»Denk jetzt nicht, dass ich dich für alt und traurig halte. Aber welche Glut diese Zeichnung hat!«
In ihrer Stimme lag ein Schwärmen, das er lange nicht mehr gehört hatte.
»Ich weiß, wie sehr du kämpfst. Ich bin so stolz auf dich.«
Sie trat dicht an ihn heran und griff nach seinen Händen. Er wandte den Blick ab. Vorsichtig drückte sie seine Hände, aber Carl reagierte nicht. Dann ließ sie los und ging zur Tür.
»Das Essen wird kalt«, erklärte sie.
Es war nicht so, dass Carl Interesse an Leonora Charlotte Camradt, der neunzehnjährigen Tochter des Apothekers von Ærøskøbing, zeigte, obwohl sie es behauptete. Verliebt hatte er sich in Fräulein Camradts Hände; und er verliebte sich in diese Hände, wie ein Maler sich eben in sein Motiv verliebt, egal, ob es sich um ein Stillleben , eine Landschaft oder den Lichteinfall durch ein Fenster handelte.
In der Apotheke hatte Carl sich eine Medizin für seinen maladen Magen besorgt. Das Pulver bestand in gleichen Teilen aus Kalomel und Rhabarberwurzel, und Fräulein Camradt hatte ihn bedient. Als sie mit der
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