Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
eingestehen, dass er Reimers Urteil fürchtete. Vielleicht dachte sich Reimer, dass er selbst es besser könnte? Oder noch schlimmer: Wusste er es möglicherweise sogar instinktiv?
Der Wirt hatte das Geschick eines geborenen Malers. Eventuell hatte er sogar dessen kritischen Blick, wenn es um die Werke anderer ging. Immerhin stand ihm aber nicht der Wortschatz eines Künstlers zur Verfügung. Meist kam nur Unfug aus seinem Mund.
»Ah ja, meine Frisur darf ich also nicht behalten«, stellte er beispielsweise fest. »Stattdessen kriege ich lange Weiberhaare. Wenn unsere Mutter sich ihr Nachthemd anzieht und den Haarknoten löst, dann sieht’s genauso aus.
Hm, dann passt der Bart ja wohl auch nicht. Der ist vermutlich zu lang. Soll ich ihn abschneiden lassen?«
Carl schüttelte den Kopf. »Das klären wir mit dem Pinsel.«
»Ja, Sie hätten Friseur werden sollen«, erwiderte der Wirt, und Carl wusste nicht, ob Hohn in der Stimme mitschwang.
Manchmal brachte Reimer seine Spielkarten mit und wollte ihm Kunststücke zeigen.
»Recken Sie den rechten Arm in die Luft«, bat Carl ihn irritiert.
Jesus sollte im Steven des Bootes stehen und den Arm in einer beschwörenden Geste heben.
»Und spreizen Sie Zeigefinger und Daumen. Ich bezahle Ihnen fünfundzwanzig Øre in der Stunde. Dafür müssen Sie tun, was ich Ihnen sage.«
Reimer ließ mit einer raschen Bewegung die Karten im Ärmel seines Gewands verschwinden. Demonstrativ hob er den Arm, als wollte er eine Pistole abfeuern.
»Nicht so hoch«, sagte Carl.
Reimer stammte nicht von der Insel. Man konnte es seinem Dialekt anhören, und als Carl sich erkundigte, erzählte er bereitwillig seine Geschichte. Er kam von der Insel Als und war gebürtiger Däne. Die Widrigkeiten der Zeit hatten ihn Deutscher werden lassen, als die Deutschen Als nach der dänischen Niederlage von 1864 besetzt hielten. Jetzt war er wieder Däne.
»Und schuld daran ist der Kaffee«, sagte er und in seine Augen trat dieses Glitzern, das einen seiner Scherze ankündigte.
»Wie das denn?«, wollte Carl wissen.
Reimer hatte mit seiner spitzbübischen Art die Neugier des Gegenübers geweckt.
»Es lag an meiner Mutter«, sagte Reimer. »Eines Tages kam sie gerannt, als wär der Teufel hinter ihr her. ›Jetzt zieh’n die Deutschen gegen die Franzosen in den Krieg!‹, schrie sie. Das hatte sie in der Zeitung gelesen. ›Johan, du musst abhauen, sonst kommen sie und holen dich zu den Soldaten, und dann bekomme ich keine Enkelkinder.‹ Also musste ich weg. Sie packte mir etwas zu essen ein, und ich lief den ganzen Weg von Neder Tandslet bis Mommark. Dort lag eine Jagt im Hafen. Ich wusste nicht so genau, was ich machen sollte, als ich eine Stimme sagen hörte: ›So, der Kaffee ist fertig.‹«
Reimer ahmte den Marstaller Dialekt nach.
»Da wusste ich, wohin sie wollten, ich ging an Bord und meldete mich. ›Was willst du spilleriger Kerl?‹, hat mich der Skipper gefragt. ›Ich bin ein entfohener deutscher Soldat‹, habe ich geantwortet. Sie befühlten meine Muskeln, grinsten und erklärten, dass ich wohl eher ein ausgemusterter deutscher Soldat wäre. ›Willst du’n Schluck Kaffee?‹, wurde ich gefragt. ›Nein danke‹, erwiderte ich. ›Ich hätte lieber’n Bier.‹ So wurde ich wieder Däne.«
Eines Tages brachte der Wirtshausbesitzer eine Klarinette mit.
»Es ist auf Dauer so langweilig«, erklärte er. »Wir brauchen ein bisschen Musik.«
Er setzte die Klarinette an den Mund.
»Nun lach schon, Malermann«, sagte er und stampfte den Takt mit dem Fuß.
Carl konnte nicht anders, er musste lachen. Er erkannte die Melodie und sang die erste Strophe.
» Eva lässt sich überreden,
Äpfel klau’n im Garten Eden.«
Er schlug mit dem Pinsel den Takt der Musik. Dann ließ er ihn sinken und schaute auf die unfertige Leinwand vor sich.
»Halt«, sagte er.
Nach einer Stunde war es Zeit für eine Pause.
»Darf ich Sie bitten, mir einen Gefallen zu tun?«, fragte Reimer. »Könnten Sie nicht dort vor Ihrer Leinwand stehen bleiben. Dann zeichne ich eine Skizze von Ihnen, wenn Sie mir ein Blatt Papier und einen Bleistift leihen würden.«
»Das kostet fünfundzwanzig Øre die Stunde«, antwortete Carl.
Sie lachten beide.
Carl arbeitete eine Weile an Jesu Gewand, dem er eine intensive rote Farbe gab. Der togaähnliche Überwurf, der von der linken Schulter drapiert herabhing, wurde blau, der Rest des Bildes düster und dunkel. Die beiden Farben leuchteten unter dem
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