Rasputins Erbe
riesigen Engel auf den Rücken tätowierte. Sie bemerkte seinen Blick, lachte verlegen und legte den Katalog wieder auf den Tisch.
„Oh nein, deswegen bin ich nicht gekommen. Mein jetziges Tattoo soll das Einzige bleiben. Ehrlich gesagt, ist mir sogar das schon zu viel“, fügte sie kleinlaut hinzu, denn sie vermutete, dass sie Jacke gerade zutiefst beleidigt hatte.
Jack jedoch runzelte die Stirn und machte sich ungefragt an ihrer Jeans zu schaffen. Er schob sie über ihren Knöchel und schaute erst auf das Tattoo und dann in Julias Augen. Er blies den Rauch seiner Zigarette rücksichtsvoll aus, um sie nicht einzunebeln und meinte: „Wie kannst du es wagen, meine Künste in Frage zu stellen!“
Julia spürte, dass es ein Spaß war und sie war erleichtert. Jack fragte weiter: „Was ist denn passiert? Hat dein neuer Macker was dagegen?“
Woher wusste er von Alexej, dachte sie überrascht. Sie realisierte dann jedoch, dass ihre letzten Jahre recht turbulent gewesen waren und sie ihre Partner wie manche Leute ihre Unterwäsche gewechselt hatte. Fast täglich also.
Außerdem konnte es gut sein, dass Verena ihm von Thomas erzählt hatte, der ja für sein Dasein als Spießer und Spaßbremse berühmt war.
„Na ja“, begann Julia. Sie beschloss, ganz ehrlich zu Jack zu sein. Er wusste sicher, was zu tun war. „Es geht darum, dass mir das Tattoo mittlerweile total kindisch vorkommt. So als wäre das nicht mehr wirklich ich.“
Julia erzählte von ihrem Erlebnis am Wochenende und Jack hörte geduldig zu.
Als sie ihm erklärte, dass sie das Tattoo gerne wieder entfernen lassen würde, schwieg Jack für einen Augenblick. Nachdem er seine Gedanken geordnet hatte, sagte er: „Du bist nicht die erste Karrierefrau, die es sich anders überlegt hat und zu mir kommt, um das entsprechende Tattoo wieder entfernen zu lassen. Mindestens ein, zwei Leute kommen pro Woche in mein Studio und wollen es rückgängig machen.“ Er deutete mit seinen Händen Anführungszeichen an und fuhr fort: „Du kannst es dir natürlich entfernen lassen, aber du kannst es nicht ungeschehen machen. Ein Tattoo und das, was du persönlich damit verbindest, kannst du nicht einfach rückgängig machen. Selbst dann, wenn es nicht mehr sichtbar ist, weißt du trotzdem, dass es einmal da war.“
Julia hatte ihr Problem noch nie von der Seite betrachtet und kam sich ein wenig naiv vor, weil sie so kurzsichtig gewesen war. Trotzdem wollte sie das Tattoo loswerden. Und das erklärte sie Jack: „Du hast völlig Recht. Ich werde immer wissen, dass da mal etwas war. Aber ich will einfach nicht, dass man mich für ein kleines Kind hält, dass sich lustige Tierchen tätowieren lässt.“
Jack lachte, als er seine Zigarette im Aschenbecher auf dem Glastisch ausdrückte. Er steckte sich überraschenderweise keine Neue an, sondern begann Däumchen zu drehen. Er schaute sie an und sagte: „Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem du und Verena zu mir gekommen seid. Da wart ihr beide total heiß auf euer Tattoo. Das ist jetzt knapp vier oder fünf Jahre her, haut das ungefähr hin?“
Julia nickte. Jack sprach weiter: „Damals war es dir doch noch scheißegal, was andere von dir denken, oder? Zumindest hast du so getan, als wäre es dir egal gewesen. Den meisten Menschen ist es in Wirklichkeit nicht egal. Was meinst du, wie viele meiner Kunden sich ein Tattoo aus genau diesem Grund stechen lassen. Um sich größer zu fühlen, stärker, wichtiger, aufregender oder sogar intellektueller. Bei euch war das anders, nicht wahr?“
Julia nickte. Sie erinnerte sich ebenfalls sehr gut an den besagten Tag, an dem Verena sie irgendwie dazu überredet hatte, sich ein Tattoo stechen zu lassen.
Es war ein Zeichen ihrer Verbundenheit, ihrer Freundschaft, ihres gegenseitigen Vertrauens. Verena hatte sich damals einen bunten Clownfisch tätowieren lassen und Julia den Stier. Für Julia war ihr Tattoo ursprünglich ein Symbol ihrer Wiedergeburt gewesen. Sie hatte sich gegen die brotlose Kunst (so nannte es ihr Vater) entschieden und für eine ordentliche Karriere (das waren ebenfalls die Worte ihres Vaters).
Und dennoch war es ihre eigene Entscheidung gewesen. Es war das einzig Richtige, redete sich Julia auf der Couch neben Jack ein. Bis vor zwei Tagen war sie ja mit ihrem Tattoo auch immer zufrieden. Es hatte zwar nicht mehr den gleichen Stellenwert wie noch vor ein paar Jahren, allerdings änderte das nie etwas an der Tatsache, dass es ihr ursprünglich extrem
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