Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
telefonieren?«
Der Hüttenwirt nickte und bat Stephan, ihm zu folgen.
Trosts Leiche wurde geborgen und mit dem Helikopter ins Tal transportiert, bevor der Hubschrauber erneut ins Gebirge kam und Traunhof, Böhringer und Stephan ins Tal brachte. Stephan hatte darauf bestanden, von der Bergwacht ins Tal geflogen zu werden, weil er sich angesichts der schlimmen Erlebnisse außerstande sah, den Rückweg zu bewältigen. In Wahrheit fürchtete er, mit Traunhof und Böhringer allein gehen zu müssen.
Die polizeiliche Vernehmung auf der Kantonspolizeidienststelle in Samedan blieb ergebnislos. Die wiederholte Frage nach dem möglichen Motiv Trosts blieb ebenso unbeantwortet wie die Frage, ob am Vorabend im Aufenthaltsraum irgendetwas geschehen sei, was Trosts Freitod erklären könne. Stephan bekundete, dass er sich in der Runde nicht wohlgefühlt und deshalb ein eigenes Zimmer bevorzugt habe. Anderes konnte auch der Hüttenwirt nicht berichten.
33
Der Notar Johannes Bollermann gehörte zu jenen Vertretern seines Berufsstandes, die der Würde ihres Amtes mit jeder Faser ihrer Kleidung, jedem Accessoire ihres Büros und jedem Wort Ausdruck verliehen und die mit stets behäbiger Geste gegenüber ihren Mandanten die Wichtigkeit ihres Tuns betonten. Ungeachtet dieser leicht zu durchschauenden Kulisse galt Bollermann unangefochten als sehr akribischer und absolut zuverlässiger Notar, der penibelst darauf achtete, die ihm übertragenen Aufgaben gewissenhaft und ordnungsgemäß zu erledigen.
Stephan war von Bollermann in dessen Büro am Alten Markt gebeten worden, und sie hatten sich dort um 18 Uhr an einem Montagabend verabredet. Die Kanzleiangestellte verabschiedete sich gerade in den Feierabend, als Bollermann Stephan in sein Büro geleitete.
»Der Kollege Dr. Trost ist jetzt gut zwei Wochen tot«, eröffnete Bollermann. »Er starb am Morgen des 27. Juli gegen 7.30 Uhr. Zwei Tage zuvor, also am Mittwoch, dem 25. Juli, hatte er mich am frühen Abend angerufen und war kurz darauf in meine Kanzlei gekommen. Er hat mir einen Umschlag gegeben, den ich im Falle seines Todes an Sie übergeben soll, Herr Knobel. Sie verstehen, dass sich mir angesichts der zeitlichen Nähe zwischen Abgabe des Umschlags und Dr. Trosts Tod Fragen stellen, die ich kraft meiner notariellen Tätigkeit nicht zu beantworten brauche. Aber es dürfte auf der Hand liegen, dass Sie in dem Umschlag Antworten auf die Frage finden werden, was den Kollegen Dr. Trost in den ebenso rätselhaften wie tragischen Freitod getrieben hat. Die Anwaltschaft hat mit Gereon Trost einen ihrer profiliertesten Vertreter verloren, Delia Trost ihren Vater und ich einen mir aus dem Tennisklub vertrauten Freund, von dem ich auch weiß, dass Trost mit Ihnen, verehrter Kollege Knobel, Großes vorhatte. Wenn ich Ihnen also jetzt den Umschlag übergebe, dann verbinde ich das mit der Hoffnung, dass Sie mit dem Wissen, das Sie möglicherweise mit dem Lesen des Inhalts erhalten, verantwortungsvoll umgehen. Was auch immer Ihnen Dr. Trost mit auf den Weg gibt, was er erklärt oder als letzten Willen verfügt hat: Lassen Sie Umsicht walten! – Ich weiß nicht, was Sie erfahren werden, aber ich bin mir sicher, dass Gereon Trost ein Mensch war, dem ich niemals einen Freitod zugetraut hätte. Es muss also etwas ganz Wesentliches passiert sein, was ihn so tief erschüttert hat, dass er seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Gereon war, soweit wir alle wissen, kerngesund. Er hatte noch ein gutes Stück Zukunft vor sich. Sie wissen, dass er unlängst Wohnsitz und Kanzlei an den Phönix-See verlegt hatte. Ein Mensch, der investiert, hat nicht unmittelbar den Tod vor Augen. Haben Sie eine Erklärung dafür, Herr Knobel?«
»Nein«, antwortete Stephan mit fester Stimme.
Bollermann betrachtete Stephan eine Weile über die Gläser seiner auf die Nasenspitze heruntergezogenen Lesebrille. Schließlich nickte er, wissend, dass Stephan mehr wusste oder zumindest ahnte. Der Notar stand auf, trat an die Rückwand seines Büros und öffnete einen kleinen Safe. Dann kam er mit einem dicken DIN-A4-Umschlag zurück. Der Umschlag war mit notariellem Siegel versehen. Bollermann schob den Umschlag und ein von Stephan zu unterzeichnendes Empfangsbekenntnis über den Schreibtisch.
»Ich werde mich an Ihre Worte halten, Herr Bollermann. Versprochen!«
Stephan quittierte den Empfang und nahm den Umschlag entgegen.
34
Stephan umklammerte den Brief wie einen kostbaren Schatz, lief aus der Kanzlei des Notars und
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