Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Augenblicke des schönen Nichtstuns und Nichtdenkens, nur dafür geschaffen, genossen und in der Erinnerung als erlebtes Leben gebucht zu werden.
Als Stephan nebenan den Hüttenwirt hörte, der vor sich hinpfeifend Wasser aufsetzte, verließ er sein Zimmer und ging in die Küche. Der Hüttenwirt musterte Stephan, der in Turnschuhen, Jeanshose und langärmeligem Wollpullover unverkennbar und unwissend den unerfahrenen Touristen gab, und nickte ihm wohlgefällig zu.
»Dein Freund ist schon früh gegangen«, meinte er. »Ich habe ihn aus meiner Kammer oben gehen sehen. Ihr habt euch also doch gestritten, denke ich. Streit untereinander ist nie gut – erst recht nicht in den Bergen. Man ist aufeinander angewiesen. Hier oben lernt man miteinander umzugehen, nicht auseinanderzugehen.«
»Er macht nur eine kleine Rundtour«, erwiderte Stephan. »Insgesamt vielleicht zwei Stunden.«
»Rundtour? Zwei Stunden?« Der Hüttenwirt lachte, nahm das kochende Wasser vom Herd und füllte es in einen Kaffeefilter, den er auf die Kanne gesetzt hatte.
»Rundtouren für zwei Stunden gibt es hier nicht, junger Freund. Die Chamanna Jenatsch ist Zielort oder Ausgangspunkt von Tageswanderungen, aber nicht von kleinen Rundexkursionen.«
»Wie?«, fragte Stephan überrascht. »Wo kann er denn hin sein? Wenn Sie ihn haben gehen sehen, müssen Sie doch wissen, wohin sein Weg führt.«
»Er hat den Weg Richtung Gletscher genommen. Von dort geht es weiter oben über den Kamm und auf der anderen Seite hinab bis St. Moritz. Das ist eine ordentliche Tour. Aber er hat eine gute Konstitution. So etwas sehe ich. Zäh. Er schafft das. Aber niemals in zwei Stunden. Es ist eine Tagestour. Er hat schon für euch beide bezahlt. 150 Franken hat er auf den Tisch gelegt. Er ist großzügig, der Gereon.«
»Über den Gletscher? – Er hat doch gar keine Ausrüstung dafür! Und kein Proviant!«
Stephan schoss ein Gedanke durch den Kopf. Er rannte in sein Zimmer zurück, riss seinen Rucksack auf und wühlte aufgeregt in seinen Sachen. Dann spürte er ein Blatt Papier in seinen Händen, zog es heraus, glättete es und las: ›Geh nicht mit Böhringer und Traunhof allein ins Tal. Du wirst alles verstehen. Dein Gereon. ‹
Stephan faltete den Zettel und steckte ihn aufgeregt in seine Hosentasche . Trost hatte ihn also nur deswegen in den Keller geschickt, um die Nachricht in seinem Rucksack zu verstecken. Aber warum hatte Trost ihm dies nicht einfach gesagt?
Als Stephan wieder in die Küche laufen wollte, stand Böhringer im Flur.
»Ist Gereon bei Ihnen?«, fragte er und spähte zugleich durch die geöffnete Tür in Stephans Zimmer.
»Sieht das so aus?«, bellte Stephan zurück und schob Böhringer zur Seite.
»Wir müssen ihm folgen«, rief Stephan in die Küche. »Bitte, kommen Sie! Sofort!«
Der Hüttenwirt schnitt Brot.
»Du bist angespannt, junger Freund«, stellte er lakonisch und etwas abschätzend fest. »Was habt ihr denn untereinander? Willst du deine Freundin zurückrufen?«
»Zurückrufen?«, fragte Stephan irritiert.
»Weil sie dich gestern Abend erreichen wollte. Ich habe ihr gesagt, dass alles in Ordnung sei und sie sich keine Sorgen machen solle. Ihr lebt stets auf dem Sprung, immer mit einem Ohr am Handy und zwischendurch mit einem Blick ins Netz. Hier oben tickt die Welt anders. Wann versteht ihr das endlich?«
Er sog den Duft des frisch aufgebrühten Kaffees in sich ein. »Brot, Käse, Salami, dazu ein würziger Kaffee. – Ganz einfach und ganz wunderbar, junger Freund. Wie wär’s?«
»Wir müssen jetzt Gereon Trost folgen!«, drängte Stephan. »Ich sage das, weil es allen Anlass zur Sorge gibt. Und ich verlange, dass Sie mich endlich ernst nehmen!«
Stephan blitzte den Wirt an, der erst jetzt zu begreifen schien, dass eine Gefahr drohte, die sich nicht durch romantisierende Verklärung zerstäuben ließ.
»Mein Junge!« Der Hüttenwirt schob die Kaffeekanne auf dem Herd nach hinten, packte Stephan an der Schulter und schob ihn über den Flur. Unterwegs nahm der Hüttenwirt sein Fernglas von einem Haken und trat dann mit Stephan aus der Hütte ins Freie. Lutz Böhringer folgte still. Der Hüttenwirt nahm den mutmaßlichen Weg Trosts ins Visier, verfolgte den ausgeschilderten Pfad, soweit er im Sichtfeld blieb, justierte dann das Fernglas neu und suchte unterhalb des Gletschergebietes weiter.
»Er kann noch nicht so weit sein«, meinte der Hüttenwirt und schwenkte nach rechts.
»Wo suchen Sie?«, fragte Stephan.
»Es
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