Raststätte Mile 81
Familienhund, brauchte vermutlich eine. Bing lief oft gegen die Fliegengittertür, wenn er in den Garten wollte. Nur Rache war dem Fluch der Kurzsichtigkeit entgangen. Als sie zuletzt beim Augenarzt gewesen war, hatte sie die ganze verdammte Sehprobentafel bis zur letzten Zeile heruntergelesen. Dr. Stratton war verblüfft gewesen. »Sie könnte sich zur Ausbildung als Jetpilotin qualifizieren«, hatte er zu Johnny und Carla gesagt.
»Vielleicht wird sie ja eines Tages eine«, hatte Johnny geantwortet. »Den richtigen Killerinstinkt hat sie jedenfalls schon – zumindest was ihren kleinen Bruder betrifft.«
Das hatte ihm einen Ellbogenstoß von Carla eingebracht, aber sie musste ihm zustimmen. Zwischen Geschwistern verschiedenen Geschlechts gebe es weniger Geschwisterrivalität, hatte sie einmal irgendwo gehört. Falls das zutraf, waren Rachel und Blake die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Manchmal glaubte Carla, dass der häufigste Spruch, den sie in letzter Zeit zu hören bekam, hat damit angefangen war. Nur das Geschlecht des vorangesetzten Personalpronomens änderte sich.
Auf den ersten fünfhundert Meilen dieser Fahrt waren die beiden ziemlich brav gewesen, zum Teil weil der bevorstehende Besuch bei Johnnys Eltern immer für gute Stimmung sorgte, größtenteils aber weil Carla darauf geachtet hatte, das Niemandsland zwischen Rachels Sitzpolster und Blakes Kindersitz mit Spielsachen und Malbüchern zu füllen. Nach ihrem Imbiss-und-Pipi-Stopp in Augusta hatte die Streiterei jedoch wieder angefangen. Wahrscheinlich wegen der Eiswaffeln. Kindern auf langen Autofahrten Zucker zu geben war praktisch so, als kippte man Benzin in ein Lagerfeuer; das war Carla zwar bewusst, aber man konnte ihnen eben nicht alles verweigern.
Aus Verzweiflung hatte Carla das Spiel Plastik-Spunk erfunden, in dem sie als Preisrichterin fungierte und Punkte für Gartenzwerge, Wunschbrunnen, Muttergottesstatuen und dergleichen vergab. Das Problem war allerdings der Turnpike, an dem es zwar massenhaft Bäume, aber nur sehr wenige Kunststoffscheußlichkeiten am Straßenrand gab. Ihre scharfäugige sechsjährige Tochter und ihr scharfzüngiger vierjähriger Sohn hatten gerade angefangen, alte Fehden aufleben zu lassen, als Rachel den Pferdeanhänger entdeckte, der kurz vor der Einfahrt zur ehemaligen Raststätte Mile 81 auf dem Standstreifen abgestellt war.
»Will das Hottehü noch mal streicheln!«, rief Blake. Er fing an, sich wie der kleinste Breakdancer der Welt in seinem Kindersitz herumzuwerfen. Seine Beine waren jetzt gerade lang genug, dass er an die Rückenlehne des Fahrersitzes treten konnte, was Johnny très lästig fand.
Vielleicht konnte ihm noch mal jemand erklären, warum er Kinder haben wollte, dachte er. Und ihm in Erinnerung rufen, was er sich eigentlich dabei gedacht hatte. Er wusste nur noch, dass es damals irgendwie vernünftig geklungen hatte.
»Blakie, tritt nicht gegen Daddys Sitz«, sagte Johnny.
»Will das Hottehü streicheln!«, brüllte Blake. Und verpasste der Rückenlehne des Fahrersitzes einen besonders gezielten Tritt.
»Du bist so ein Baby«, sagte Rachel, die auf ihrer Seite der entmilitarisierten Zone des Rücksitzes vor Brudertritten sicher war. Sie sprach in ihrem gönnerhaftesten Großes-Mädchen-Ton, der Blakie garantiert immer auf die Palme brachte.
» BIN ABER KEIN BABY NICH! «
»Blakie«, begann Johnny. »Wenn du nicht aufhörst, gegen Daddys Sitz zu treten, muss Daddy sein Lieblingsfleischermesser rausholen und Blakies kleine Füßchen an den Knöcheln ampu…«
»Sie hat eine Panne«, sagte Carla. »Siehst du die Warnkegel? Fahr rechts ran.«
»Schatz, dann müsste ich auf der Standspur halten. Keine so gute Idee.«
»Nein, du fährst einfach um ihn herum und hältst neben den beiden anderen Wagen. In der Einfahrt. Da ist Platz genug, und du behinderst niemand, weil die Raststätte geschlossen ist.«
»Wenn’s dir nichts ausmacht, möchte ich ankommen, bevor es dun…«
»Fahr rechts ran.« Carla hörte sich ihren Kasernenhofton benutzen, der keinen Widerspruch duldete, obwohl sie wusste, dass sie sich damit einen schlechten Dienst erwies. Wie oft hatte sie in letzter Zeit mit anhören müssen, wie Rache in genau diesem Ton mit Blake sprach? Wie sie ihn so lange damit triezte, bis der kleine Kerl in Tränen ausbrach?
Carla schaltete den Ihr-der-gehorcht-werden-muss-Ton ab und fügte sanfter hinzu: »Diese Frau war so nett zu den Kindern gewesen.«
Als es Eis geben sollte, hatten
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