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Raststätte Mile 81

Raststätte Mile 81

Titel: Raststätte Mile 81 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Ende, ohne irgendwas rot anzustreichen, und wischte mir die Augen, damit keine Tränen auf die Seiten fielen, die ihn offensichtlich so viel Mühe gekostet hatten. Hatte ich geglaubt, er wäre langsamer als die anderen, vielleicht bloß einen halben Schritt über dem, was man früher »bildungsfähiger Minderbegabter« genannt hat? Nun, das hatte weiß Gott einen Grund, nicht wahr? Genau wie sein Hinken. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Aber er war am Leben. Ein netter Mann, der immer lächelte und die Kinder niemals anschrie. Ein netter Mann, der die Hölle durchlitten hatte und jetzt daran arbeitete – bescheiden und hoffnungsvoll wie die meisten –, seinen Highschool-Abschluss zu machen. Auch wenn er für den Rest seines Lebens Hausmeister bleiben würde: nur ein Kerl in einer grünen oder braunen Arbeitskluft, der mit einem Besen unterwegs war oder mit dem Kittmesser, das er immer in der Gesäßtasche hatte, Kaugummis vom Boden kratzte. Vielleicht hätte er früher einmal etwas anderes werden können, aber eines Abends hatte sein Leben Kapriolen geschlagen, und so war er heute nur ein Kerl in Carhartt-Overalls, den die Kids als »Hoptoad Harry« verspotteten, weil er hinkte.
    Ich habe also geweint. Nicht lange, aber die Tränen waren echt, solche, die tief von innen kommen. Vom Ende des Korridors her war zu hören, wie die Lisbon-Band ihren Siegesmarsch anstimmte – also hatte die Heimmannschaft gewonnen, was ich ihr gönnte. Später würden Harry und einige seiner Kollegen wahrscheinlich die Tribünen zusammenschieben und das Zeug aufkehren, das zwischen den Stufen durchgefallen war.
    Ich malte ein großes rotes A aufs erste Blatt. Betrachtete es einen Augenblick und setzte dann ein großes rotes + daneben. Weil der Aufsatz gut war und Harrys Schmerz in mir, seinem Leser, eine emotionale Reaktion hervorgerufen hatte. Und ist es nicht das, was ein mit A plus benoteter Aufsatz tun sollte? Eine Reaktion hervorrufen?
    Was mich betrifft, wünsche ich mir nur, die ehemalige Christy Epping hätte recht behalten. Ich wünschte, ich wäre doch emotional blockiert gewesen. Denn alles, was danach folgte – inklusive all der schrecklichen Dinge –, entstand aus diesen Tränen.

Teil 1
    TEIL 1
    EIN ENTSCHEIDENDER AUGENBLICK

Kapitel 1
    KAPITEL 1
    1
    Harry Dunning bestand mit Bravour. Auf seine Einladung hin ging ich zu der kleinen Zeremonie in der LHS -Turnhalle. Er hatte wirklich sonst niemanden, und ich tat ihm diesen Gefallen gern.
    Nach dem Segen (von Pater Bandy gesprochen, der kaum eine LHS -Veranstaltung ausließ) arbeitete ich mich durch das Gedränge aus Freunden und Verwandten zu der Ecke vor, in der Harry in seinem wallenden, schwarzen Talar allein dastand – mit seinem Diplom in der einen und dem geliehenen quadratischen Barett in der anderen Hand. Ich nahm ihm das Barett ab, damit ich ihm die Hand schütteln konnte. Er grinste und ließ dabei ein Gebiss mit Lücken und mehreren schiefen Zähnen sehen. Aber es war trotzdem ein sonniges, gewinnendes Grinsen.
    »Danke fürs Kommen, Mr. Epping. Vielen Dank!«
    »War mir ein Vergnügen. Und Sie können ruhig Jake zu mir sagen. Das ist eine kleine Vergünstigung, die ich Schülern gewähre, die alt genug sind, um mein Vater zu sein.«
    Harry verstand nicht gleich, aber dann lachte er. »Das bin ich wohl, stimmt’s? Schiet!« Ich lachte ebenfalls. Um uns herum lachten viele Leute. Und es gab natürlich Tränen. Was mir so schwerfällt, ist für sehr viele Menschen ganz leicht.
    »Und dieses A plus! Schiet! Ich hab mein Leben lang noch kein A plus gekriegt! Hab auch keins erwartet!«
    »Sie hatten es verdient, Harry. Was haben Sie als Highschool-Absolvent als Erstes vor?«
    Sein Lächeln verblasste kurz – das war etwas, worüber er noch nicht nachgedacht hatte. »Ach, ich glaube, ich fahre heim. Ich wohne in der Goddard Street in einem gemieteten Häuschen.« Er hielt das Diplom vorsichtig zwischen den Fingerspitzen hoch, als hätte er Angst, die Tinte zu verwischen. »Das hier werde ich mir einrahmen und an die Wand hängen. Dann hole ich mir ein Glas Wein oder so und setze mich auf die Couch und bewundere es, bis es Zeit fürs Bett ist.«
    »Klingt nach einem Plan«, sagte ich. »Aber wie wär’s, wenn Sie vorher einen Burger mit Fritten mit mir essen würden? Wir könnten zu Al’s fahren.«
    Ich erwartete, dass er zusammenzucken würde, aber damit warf ich Harry natürlich fälschlicherweise in einen Topf mit meinen Kollegen. Ganz zu

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