Ratgeber & Regenten 01 - Die Bluthündin
Tzigone ihre Hände auf die Hüfte und stolzierte so umher, wie es die Dirnen machten.
»Die Zeiten sind lang vorbei«, sagte die Frau mit unerwartet trockenem Humor. Sie befühlte den Stoff mit den Gichtfingern. »Das bringt sie zwar auch nicht zurück, aber ich nehme es dir ab, Mädchen, und«, fügte sie verschlagen an, »ich werde keinem, der danach fragt, sagen, woher ich’s hab.«
Tzigone nickte und wollte weitergehen, als die Frau sie am Saum der Tunika festhielt. Mit einem Mal war Leben in ihrem Gesicht. »Was ist mit den Sternen, Mädchen? Haben die Sterne Mystras, die dieses Kleid berührt haben, für die Zukunft Gutes oder Schlechtes geweissagt? Versteh’s nicht falsch, aber ich werde mir kein böses Omen anziehen.«
Tzigone lächelte. »Keine Sorge. Mir wird immer das Gleiche geweissagt.«
Das schien der Alten zu genügen, da sie sich aufrichtete und davoneilte, ihren Schatz fest an sich gedrückt.
In diesem Fall hatte Tzigone die ungeschönte Wahrheit gesagt. Magie glitt an ihr ab wie Wasser am Federkleid eines Schwans. Die winzigen magischen Lichter, die zum Ende der Festlichkeiten am Tag der Herrin vom Himmel herabgeregnet waren, hatten sich geweigert, sie zu berühren. Sie schloß die Augen und seufzte, als sie daran dachte, wie die Menschen vor ihr zurückgewichen waren, deren eigene rote Kleidung von Mystras Sternen funkelte, und wie sie sie angesehen hatten, als würden sie einer Beerdigung beiwohnen. Aus gutem Grund – keine Sterne, keine Zukunft. »Du bist tot«, hatten ihre Augen gesagt. »Du weißt es nur noch nicht.«
»Hetzt mich nicht«, hatte Tzigone gemurmelt.
Was sie noch mehr gestört hatte als die Reaktion der Menge war ihr eigener kleiner Fehltritt gewesen. Sie hatte sich in einem Geschäft am Ort heimlich ein rotes Kleid ausgeliehen, damit sie sich unbemerkt durch die Menge bewegen konnte. Dabei hatte sie vergessen, was am Ende der Feier geschehen würde, und nicht darüber nachgedacht, wie sehr ihr von den Sternen gemiedenes Kleid den Wemic auf sie aufmerksam machen würde, der ihr in der letzten Zeit folgte.
Das war das eigentliche Problem. Sie hatte so lange überlebt, weil sie nichts vergaß. Das war das Gesetz, das ihre Tage beherrschte. Keine Nachlässigkeit blieb ungesühnt, jede freundliche Geste, ganz gleich, wie beiläufig oder unabsichtlich, zog eine Belohnung nach sich. Doch für sie war der Schlaf immer die Wahre Zeit des Erinnerns gewesen. Manchmal, wenn sie tief in ihre Träume versunken war, konnte sie sich fast an ihren wahren Namen und das Gesicht ihrer Mutter erinnern.
Der Schlaf lockte, woraufhin sie sich ihren Weg durch die engen Seitengassen bahnte, um zu einem ihrer liebsten Verstecke zu gelangen. Sobald sie sich hingelegt hatte, fiel sie in tiefen Schlummer.
Obwohl sie erschöpft war, begann sie zu träumen. Es war ein vertrauter Traum, reich an Bildern und Erlebnissen aus der Kindheit. Es war dämmrig, und der leichte Wind war schmeicheln und sanft, wie immer, wenn die Nacht den Wind vom Halruaasee ins Landesinnere lockte und die schwüle Sommerluft wie die Röcke einer Magierkönigin wehen und wirbeln ließ. Die Brise war auf jenen Dächern besonders angenehm, von denen aus man die Hafenstadt Khaerbaal überblickte. Auf dem schindelgedeckten Dach einer am Hafen gelegenen Kneipe jagten das Mädchen und seine Mutter schwebenden Bällen aus Licht nach, die vor dem purpurnen Himmel hüpften und tanzten.
Viele halruaanische Kinder in ihrem Alter konnten Lichter beschwören, doch ihre waren etwas ganz Besonderes: Sie hatten die Farbe von Edelsteinen und waren fast lebendig, da sie jedem Versuch, ihnen nachzustellen, wie geschickte Glühwürmchen auswichen.
»Das da!« kreischte sie fröhlich und deutete auf eine strahlend orangefarbenne Kugel – einen Erntemond in klein.
Gehorsam raffte ihre Mutter die Röcke und eilte der Kugel nach. Das Kind lachte und klatschte in die Hände, weil sich die Kugel einfach nicht fangen lassen wollte, doch die Augen des Kindes ruhten länger auf der Frau als auf dem tanzenden Licht.
Ihre Mutter war ihre ganze Welt. In den Augen des Kindes war die kleine, dunkle Frau die allerschönste und allerklügste Magierin in ganz Halruaa. Das Lachen ihrer Mutter war Musik und hell wie ein Feenlied, und wenn sie lief, dann wehte ihr langes braunes Haar wie ein seidener Schatten hinter ihr her.
Andere Kinder hatten sich diesem Spiel nie angeschlossen, aber sie fehlten dem Mädchen nicht wirklich. In der Stadt unter ihnen
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