Ratgeber & Regenten 01 - Die Bluthündin
nicht mehr geschehen war – nicht mehr, seit sie ein sehr kleines Mädchen gewesen war und der Feengeist sich unerbittlich über sie lustig gemacht hatte.
Tzigone setzte sich vor Schreck über diese plötzliche Erinnerung abrupt aufrecht hin.
»Der Feengeist«, flüsterte sie und sah fasziniert zu, wie der winzige Schatten dieser fernen Erinnerung Gestalt annahm. Sie hatte seit vielen Jahren nicht mehr an den alten Freund gedacht; zumindest hatte sie sich nicht an ihn erinnert, wenn sie wach war. Es kam ihr vor, als hätte sie von ihm geträumt, aber sie konnte sich nicht an Einzelheiten erinnern.
Plötzliche Frustration ergriff von ihr so heftig Besitz, daß sie ein Tintenfäßchen ergriff und gegen die Wand schleuderte. Smaragdgrüne Tinte verteilte sich auf dem weißen Verputz und troff auf den Teppich. Die Bescherung verschwand im nächsten Augenblick, so wie es auch bei allen schriftlichen Verträgen der Fall war, bei denen der Behirhändler Bedenken hatte.
Tzigone seufzte. Erinnerungen. Sie entzogen sich ihr, und doch war sie von ihnen besessen. Sie versuchte, sich alles zu merken, was möglich war, Sprachen zu lernen, Namen und Gesichter, Lieder und Stadtpläne in ihr Gedächtnis einzubrennen.
Darüber hinaus suchte sie nach Mitteln und Wegen, die Dinge in ihr Gedächtnis zurückzuholen, an die sie sich nicht erinnern konnte. Aber dabei war sie nie auf den Gedanken gekommen, sich an die Jordaini zu wenden.
Die Jordaini unterzogen sich einem speziellen Gedächtnistraining. Es hieß, sie konnten aus den Lagerhäusern ihres Gedächtnisses noch den kleinsten Erinnerungsfetzen wieder hervorholen. Vielleicht konnte sie von Matteo lernen.
Das allein war Grund genug, ihn aufzusuchen. Tzigone vermutete, daß sie noch einen anderen Grund hatte, aber die Worte, um ihn zu beschreiben, waren ihr fremd.
Mit einem Schulterzucken nahm Tzigone das Buch und begann, über die geheime Abstammung der Jordaini zu lesen.
* * *
An diesem Abend begleitete Matteo Procopio zum ersten Mal zum Hof. Über die anstehenden Ereignisse war kein Wort verloren worden, aber Matteo hatte eine klare Vorstellung vom Grund seines Patrons, ihn mitzunehmen. Dennoch machte er sich auf das Unerwartete gefaßt. Seit dem Tag, an dem Tzigone begonnen hatte, immer wieder in seinem Leben aufzutauchen, waren unvorhersehbare Ereignisse an der Tagesordnung. Ihre Einmischung hatte ihn hierhergeführt, und er wollte nicht glauben, daß sie ihn jetzt in Ruhe lassen würde.
Die erste Überraschung war, daß der König und die Königin getrennt Hof hielten. Zalathorm hielt Hof in einem großen Saal, der von hoch aufragenden Bögen aus grüngeädertem Marmor geprägt wurde. Große Fenster waren hoch oben in den Wänden eingelassen, und vor einem der größten Fenster befand sich eine Anlegestelle für Himmelsschiffe. Kunstvolle Steinmetzarbeiten überzogen die Wände und Bögen, während die Decke verzaubert worden war, so daß sie einem Nachthimmel glich.
Matteo stellte fest, daß die Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Die »Sterne« über ihm bildeten tatsächlich Konstellationen, die sich in der Natur nicht fanden, und formierten sich jedes Mal zum Wappen oder der Sigel des Magiers, der soeben eintrat und angekündigt wurde.
Fast jeder der Anwesenden war ein Magier von beträchtlicher Macht. In der Stadt gab es siebzehn Mitglieder des Ältestenrats, und bis auf eines waren alle anwesend, als Matteo und sein Patron eintrafen. Das letzte noch fehlende Mitglied war Xavierlyn, eine zierliche Frau, die am liebsten als Magierin der Morgenröte bezeichnet wurde. Matteo sah, wie sich ihr Himmelsschiff, ein vergoldetes Wunderwerk mit Segeln, die in den sanften Farben des Sonnenaufgangs gestrichen waren, stilvoll der Anlegestelle näherte. Die letzten Schritte legte die Magierin in der Luft zurück und verzichtete völlig auf eine Planke oder Plattform, dann schwebte sie zu Boden. Es war ein bemerkenswerter Auftritt, und Matteo nahm zur Kenntnis, daß Procopio mehr als nur beiläufig am Erscheinen seiner Rivalin interessiert war.
Matteo hatte erwartet, Zalathorms Hof würde Macht und Reichtum zur Schau stellen, und er wurde nicht enttäuscht. Viele Magier trugen die altmodischen zeremoniellen Roben ihres Amtes und ihrer Schule. Andere hatten modischere Kleidung gewählt. Die Frauen trugen ausgefallene Kleider, während sich die Männer in seidenen Gewändern in gleichermaßen leuchtenden Farben präsentierten. Etliche der Magier waren in Begleitung ihrer
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