Ratgeber & Regenten 02 - Das Wehr
Bewußtsein akzeptierte dieses Argument, doch Matteos Füße fühlten sich an wie Blei, als er vor die Kugel und damit in die Sichtlinie seiner Herrin trat.
Der Gesichtsausdruck der Königin gab keinen Hinweis darauf, ob sie ihn erkannt hatte, doch nach einem kurzen Moment sprach sie mit gleichmäßiger, fast tonloser Stimme seinen Namen. »Ich bin bereit zum Spaziergang auf der Promenade. Du kannst kommen.«
Matteo unterdrückte ein Seufzen. »Majestät, Ihr gabt mir Zeit, um mich um eine dringende Angelegenheit zu kümmern. Ich war seit mehr als einem Mondzyklus nicht im Palast.«
Die Königin ließ keine Regung erkennen. Sie wirkte auch nicht verstimmt, weil sie möglicherweise den Grund für Matteos Abwesenheit vergessen hatte – oder weil sie sich vielleicht über seine Abwesenheit ärgerte. »Ist diese Angelegenheit jetzt abgeschlossen?«
Die Ausdehnung von Akhlaurs Sumpf war gestoppt worden, den Laraken hatten sie erfolgreich vertrieben. Kiva war in den Händen der Azuth-Priester. Die Jordaini, die Kiva fälschlich beschuldigt hatte, damit sie in ihrer persönlichen Armee kämpfen konnten, waren von allen Vergehen losgesprochen worden, und nach allen Maßstäben – seinen eigenen ausgenommen – hatte Matteo seine Pflichten als Ratgeber nicht nur erfüllt, sondern übertroffen.
»Nein, Königin«, sagte er schließlich. »Es gibt noch Dinge, derer ich mich annehmen muß.«
»Gut.« Sie sprach in einem Tonfall, als seien seine Antwort oder gar seine Präsenz für sie völlig ohne Konsequenzen. Ihr Bild verschwand aus der Kugel, die nun wieder ein schwach leuchtender Mondstein war.
»Dinge, derer du dich annehmen mußt?« fragte Grail. »Was soll das sein?«
Matteo verbeugte sich respektvoll vor dem älteren Mann. »Persönliche Angelegenheiten, Herr. Wenn Ihr Fragen habt, richtet sie bitte an meine Herrin.«
Das kam einer Lüge so nah wie nichts zuvor in Matteos Leben. Er behauptete nicht, er kümmere sich um Beatrix’ Angelegenheiten, aber man konnte seine Worte so auslegen. Grail hob eine schwarze Augenbraue, um seinem Argwohn Ausdruck zu verleihen.
Vishna sprang auf und nahm Matteos Arm. »Dann solltest du dich wieder auf den Weg machen«, sagte er freundlich. »Du hast schon lange genug hier herumgelungert.«
Matteo ließ es zu, daß der alte Magier ihn aus dem Turm geleitete. Als sie den Hof erreicht hatten, löste er sich aus Vishnas Griff und deutete mit dem Kopf eine dankbare Verbeugung an. »Das war nett von Euch. Ich wollte dieses Treffen nicht in die Länge zu ziehen.«
Vishna warf ihm ein wehmütiges Lächeln zu. »Höre dir erst einige Ratschläge an, mein Sohn, dann kannst du immer noch entscheiden, ob du mir danken willst oder nicht. Du hast viele Begabungen, aber Lügen gehört nicht dazu! Wenn du diese Kunst lernen willst, schlage ich vor, daß du sie vor dem Spiegel übst, bis du siehst, daß dir die Schuld nicht mehr ins Gesicht geschrieben steht!«
Vishna sprach mit lockerem, leicht neckendem Tonfall, doch Matteo wußte nicht, was er erwidern sollte. Was sollte man sagen, wenn ein vertrauenswürdiger Meister von gelungener Falschheit erzählte, als sei sie ein gutes und erstrebenswertes Ziel?
Während das Schweigen kein Ende zu nehmen schien, betrachtete Vishna den jungen Mann mit wachsender Sorge. »Diese Angelegenheit, die noch nicht erledigt ist ... sie muß sehr ernst sein.«
»Nicht ernster als das, was vor jedem Jordain liegt«, sagte Matteo knapp. »Ich suche die Wahrheit.«
»Aha.« Das ironische Lächeln des alten Mannes erkannte den in Matteos Worten enthaltenen Tadel an. »Die Suche nach der Wahrheit kann auf sehr erstaunliche Pfade führen. Dein Pfad hat Distanz zwischen dir und dem Orden entstehen lassen.«
Der Scharfsinn Vishnas irritierte Matteo. »Warum sagt Ihr so etwas?«
»Ich kenne dich, seit du die Kinderstube verlassen hast, um mit dem Studium zu beginnen. Ich habe nie erlebt, daß du eine ausweichende Antwort gabst. Es spricht für nachlassendes Vertrauen.«
Matteo konnte nichts dagegensetzen. »Wenn ich gefehlt habe, Meister Vishna, dann bitte ich um Verzeihung.«
»Das ist unnötig.« Vishna klopfte Matteo auf die Schulter. »Der Weise faßt nicht leicht Vertrauen und spricht nicht offen.«
»Wohl wahr, doch Mißtrauen nagt an der Seele. Ebenso wie das Schweigen. Ich vermisse die Tage, an denen wir offen sagen konnten, was uns bewegte, ohne etwas schönzureden oder auf einer Metaebene auszudrücken.«
»Das Privileg eines Kindes, Matteo. Du
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