Rattentanz
war in seinen Augen immer nur noch schöner geworden. Das Leben an seiner Seite hatte Falten in ihr Gesicht gebrannt, tief und freundlich, und in ihren leuchtenden Augen, die vor Glück strahlten, wenn sie ihn sahen, wachten heute Zufriedenheit und das Wissen um ihre Liebe. Olga war immer bei ihm geblieben, egal wie schwer die Zeiten für sie auch waren. Sie war sogar mit nach Deutschland gekommen, obwohl sie dafür ihre sibirische Heimat für immer verlassen musste.
»Meine Heimat ist da, wo du bist«, hatte sie damals, als sie über Mo nate hinweg das Für und Wider einer Ausreise erwogen, in sein Ohr geflüstert. Sie hatte recht gehabt: Heimat ist weniger ein Ort oder die Erinnerungen an diesen oder eine bestimmte Zeit. Heimat ist ein Mensch, Heimat ist Liebe. Und wenn einer von ihnen geht, für immer und unwiderruflich, dann wird der Zurückgelassene heimatlos und ohne Wurzeln. Deshalb die gesammelten Tabletten.
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07:36 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2
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Du bist widerlich! Du bist ekelhaft! Wie kannst du uns DAS zum Trinken anbieten?! Nummer zwei polterte durch Thomas’ Kopf und überschlug sich. Dabei hatte er doch nur einen winzigen Schluck Melissentee gekostet.
Wie spät war es wohl? Herrschte da draußen Tag, war Nacht? Gab es die Welt da draußen überhaupt noch? Vielleicht hatte sich alles im Nichts aufgelöst und seine enge Fahrstuhlkabine war, wie Nummer drei es vor Stunden irgendwann gerufen hatte, nur ein Käääfig, der auf immer und eeewig durch die Schleifen einer verlorenen Zeit blubberte.
Thomas hatte im Sitzen geschlafen, mit dem Rücken an der Fahrstuhltür. Eigentlich schlief er am liebsten auf dem Bauch, einen Arm unter dem Kopf, und bis über beide Ohren zugedeckt. Aber Nummer eins hatte ihm geraten, so zu schlafen, damit er sofort merke, wenn die Aufzugtür sich eventuell öffnen sollte. Nummer zwei hatte daraufhin eine wilde Tirade an Eventualitäten aufgezählt, in die Thomas – und damit sie alle – stürzen könnte. Denn es war ihrer Meinung nach nicht völlig auszuschließen, dass der Aufzug sie an einem völlig anderen Platz, in einer völlig anderen Zeit, ausspucken würde. Men-schenfresser, Güllegruben, Kreuzritter und Ameisenhaufen waren nur einige, mit denen sie nicht, Rücken voraus, Bekanntschaft schließen wollte.
Aber jetzt hatte er Durst! Und er musste kacken!
Das Letztere würde er irgendwie hinauszögern können, aber trinken musste er. Seine Kehle fühlte sich wie mit Sandpapier bearbeitet an und wenn er an die Thermoskanne dachte, die randvoll in der warmen, schwarzen Aktentasche auf ihn wartete, wurden Thomas’ Handflächen feucht. Er konnte an nichts anderes mehr denken.
Trinken.
Man konnte Wasser trinken, Wasser, das aus Flaschen kam oder dem Wasserhahn, Wasser aus einem Bach oder das Wasser, das während eines Landregens von den Blättern der Bäume tropfte. Man konnte salziges Wasser aus dem Meer trinken, aber das war nicht gut, soviel wusste er. Wasser schmeckte manchmal süß oder nach Metall, als ob man an einer alten Eisenstange leckte. Den besten Geschmack hatte es, wenn es nicht zu kalt und nicht zu warm war, wenn es genau die richtige Temperatur hatte, die alle Aromen in ihm zum Wachstum brachten, denn genau so war es: in kaltem Wasser erstarrten alle Geschmacksnoten, im zu heißen Wasser rannten sie davon und nur am richtigen Punkt dazwischen blühten sie auf und gaben all die Schönheit preis, die ihnen innewohnte.
Blödsinn.
Trinken.
Man konnte den Geschmack des Wassers verändern, wenn man den Saft von Früchten hineingab oder Kräuter oder Zucker oder Salz. Und manchmal konnte dieses neue Wasser dann auch heilen, konnte aufwecken, böse Gedanken verscheuchen und beruhigen. Melissentee.
Thomas tastete nach seiner Tasche und holte die Thermoskanne hervor.
Untersteh dich!
Er öffnete den Verschluss und roch. Melissentee! Es war köstlicher Melissentee, warm und mit einer winzigen Prise Zucker, gerade richtig, um den Geschmack der Kräuter zu liebkosen, um ihnen zu schmeicheln und sie hervorzulocken. Thomas liebte den Geruch von Melisse, er liebte den Geschmack und seine Wirkung auf ihn. Und er hatte so unsäglichen Durst.
Wenn du DAS trinkst, kreischte Nummer zwei, sind wir geschiedene Leute! Ich rede nie wieder ein Wort mit dir! Hast du das verstanden? Herrlich hihi, oh wie wird das schön, wenn die endlich mal die Klappe hält, hihi. Dann sind wir endlich gaaanz für uns, mein lieber, kleiner Tommy. Der andere sagt ja eh
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