Rattentanz
nahen Kreuzung – rechts ging es in die Stadt und zu Olga Glück, links nach Wolterdingen – blieb er einige Minuten mit laufendem Motor stehen. Er hielt seinen nutzlosen Taschencomputer in der Hand und versuchte sich an das Bild seiner Frau zu erinnern, das Bild, auf dem sie ihm, völlig nackt, stolz ihren prallen kugelrunden Bauch zeigte. Er hatte das Bild erst vor wenigen Tagen aufgenommen und seitdem Dutzende Male betrachtet. Heimlich. Aber jetzt, jetzt konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Es war, als sei mit dem kleinen Computer auch seine Erinnerung gestorben, als sei sie, seine Frau, gestorben!
Er versuchte nicht daran zu denken, was in den vergangenen vierundzwanzig Stunden in Freiburg geschehen sein mochte. Wenn hier in Donaueschingen, wo kaum mehr als zwölftausend Menschen lebten, bereits so viel Brutalität möglich war, was wartete dann erst in Freiburg? Die Eckpfeiler dessen, was als Zivilisation bezeichnet wurde, waren weggebrochen. Die Zivilisation, mit all ihren Regeln, Verboten und Gesetzen, war die Angst, welche die wilde Bestie Mensch daran hinderte, die wilde Bestie Mensch zu sein. Aber jetzt war die Macht der Angst plötzlich zahnlos, die Zivilisation dabei, zu zerfallen.
Stiller sah seine Frau in der kleinen Mansardenwohnung in Freiburg. Allein, hochschwanger. Er sah zurück zum Klinikgebäude, in dem er drei Wahnsinnige wusste und er sah nach rechts, wo über den Dächern der Stadt dünne Rauchschwaden von den Bränden der vergangenen Nacht berichteten. Dann warf er den nutzlosen Computer auf den Beifahrersitz, riss das Steuer nach links und gab Vollgas. Mit durchdrehenden Rädern kehrte er der Stadt und seinem Krankenhaus den Rücken.
Eva streichelte Aleksandr Glücks Hand. Freudestrahlend hatte sie ihm von Stillers Entschluss erzählt. »Er wird es schaffen!« Sie drückte die Hand des kranken Mannes und sah ihm glücklich in die tief liegenden Augen. »Sie werden sehen, Dr. Stiller wird bald mit Ihrer Frau zurück sein.«
Glück lächelte und schloss die Augen. Er war so müde an diesem Morgen, so unsagbar müde. Fühlte man sich so, wenn das Ende nahe war? War dies der Tod? Er wollte noch nicht sterben, nicht bevor seine Frau hier war. Natürlich würde der kleine Doktor seine Frau holen. Natürlich. Und wenn sie dann endlich bei ihm wäre, wollte er wach und stark sein für sie. Solange aber wollte er noch schlafen. Nur, bis der kleine Doktor mit seiner Olga einträfe, nicht länger. Nicht für immer. Noch nicht.
40
11:04 Uhr, Wellendingen, Gasthaus Krone
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Wie schon am Vortag, waren am späten Vormittag die beiden Räume des Gasthauses bis auf den letzten Platz besetzt. Die Menschen drängten sich bis an die Wände der Gaststuben. Sie warteten darauf, dass Frieder Faust die Versammlung eröffnete.
Nachdem Kiefer und Bubi ins Hardt gerast waren und Faust und den anderen Männern von ihrem grausigen Fund berichtet hatten, wurden die Arbeiten an dem Massengrab kurzerhand eingestellt. Faust schickte Christoph Eisele und vier andere Männer durch das Dorf, sie sollten an jede Tür klopfen und alle Einwohner Wellendingens zum Gasthaus Krone rufen. Faust selbst fuhr mit Kiefer, Bubi und zwei anderen zum Haus von Adelheid und Eugen Nussberger.
Adelheid Nussberger hing mit toten Augen an ihrem Lieblingsast und starrte ins Leere. Die Männer schnitten sie ab, trugen den leblosen Körper ins Haus und bedeckten die Frau mit Betttüchern.
Als Faust eintrat, saß Eugen Nussberger am Küchentisch und rauchte. Die betrunkenen Soldaten hatten ihm, wie seiner Schwester, ein dickes Seil um den Hals gelegt und ihn kurzerhand aufgeknüpft. Einfach so, nur um zu sehen, wie das ist.
Als Adelheid Nussbergers Füße den Kontakt zum Boden verloren hatten, war sie noch immer vom Begrüßungsfaustschlag eines der Deserteure bewusstlos. Sie bekam von ihrem Ende nichts mit. Eugen Nuss berger zogen sie hingegen bei vollem Bewusstsein empor. Was ihn rettete, war zum einen die Unachtsamkeit seiner Henker, die das Seil über den aufgeschlagenen Kragen seiner Jacke legten. Zum anderen war es Bubis beherztem Eingreifen zu verdanken, dass er noch lebte.
Die Soldaten verließen das Haus, als Nussberger ohnmächtig wurde.
Faust wollte Nussberger nicht allein in dessen Haus zurücklassen. Kurzerhand nahm er ihn mit ins Gasthaus.
»Ihr habt alle gehört, was heute früh oben bei Nussbergers geschehen ist.« Faust hatte sich erhoben und augenblicklich kehrte Ruhe ein. Über zweihundert
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