Rattentanz
Augenpaare in und viele weitere vor dem Gasthaus hingen an seinen Lippen. »Martin und Bubi haben die beiden ge funden. Wahrscheinlich waren es Soldaten, die aus Donaueschingen desertiert sind.«
»Woher willst du das wissen?«, brüllte ein Rufer durch das offene Fenster. »Woher willst du wissen, dass es keiner von uns war, dass nicht ein Mörder unter uns ist?«
Faust bat daraufhin Martin Kiefer zu sich. Kiefer erzählte kurz von ihrem Ausflug mit Georg Sattler, von ihrem Beinaheunfall am Golfplatz und Sattlers überraschendem Entschluss, zu Fuß nach Stühlingen ins Krankenhaus zu gehen. Dabei sah er oft hinüber zu Bubi. Er erzählte von ihrer Begegnung mit den Soldaten und deren Unfall und wie sie schließlich das alte Geschwisterpaar gefunden hatten.
Im Saal herrschte Stille. Das Entsetzen war fast mit Händen zu greifen. Jeder hier kannte die beiden und Eugen Nussberger spürte die Blicke zwischen seinen Schulterblättern.
»Und was soll jetzt werden?« Hildegund Teufel störte als Erste die Ruhe. Sie winkte mit einem ihrer Stöcke. »Scheint ja nicht alles so schnell wieder heil zu werden, wie wir gestern noch gedacht haben, oder? Was machen wir jetzt?«
Aus allen Richtungen kam Gemurmel.
»Wenn die beiden desertiert sind, kommen bestimmt noch mehr!«
»Wir sind denen genauso schutzlos ausgeliefert wie Nussbergers.«
»Heute Nacht wurden bei Albickers Milch und Kartoffeln aus dem Stall gestohlen!«
»Es kann jeden von uns treffen!«
»Wir müssen Posten aufstellen und uns verteidigen.«
»Na klar, wir klettern auf Bäume und bewerfen sie mit Dreck, ja?«
»Sollen wir etwa zusehen, wie wir ausgeplündert und ermordet werden? Ich werde auf jeden Fall meine Familie verteidigen und wenn ich dabei draufgehe!«
»Wir sollten uns nachts vielleicht besser im Wald verstecken.«
»Straßensperren sind das einzig wirksame Mittel. Je weiter weg vom Dorf wir die Straßen blockieren, desto besser. So kommen die gar nicht erst in unsere Nähe.«
»Ich weiß nicht. Sollten wir nicht erst mal versuchen, mit den Leuten zu reden? Nicht jeder ist gleich schlecht und ein Mörder.«
»Natürlich nicht. Sicher ist auch der eine oder andere Vergewaltiger darunter. Hättest du Lust?«
Faust stieg auf einen Tisch und schlug zwei Pfannen, die ihm der Wirt gegeben hatte, gegeneinander. Augenblicklich herrschte Ruhe und jeder sah zu Faust. Eine Spielfilmszene, einmal eben die Stopptaste gedrückt und schon konnte man in Ruhe pinkeln gehen.
»Wenn wir hier alle nur wild durcheinander reden, kommen wir nicht weiter. Und, nur für die, die es noch nicht wissen: Wir haben auch schon einige Fälle von Durchfallerkrankungen. Ursache ist wahrscheinlich abgestandenes Wasser.«
»Aber meine Frage hast du noch nicht beantwortet, Frieder. Was soll jetzt werden?«
Faust kratzte sich am Kopf und stieg vom Tisch. »Um das herauszufinden sind wir hier.«
»Ich bin der Meinung«, Eisele war auf den Tisch geklettert, »bevor wir über irgendetwas anderes sprechen, sollten wir unserem Dorf irgend eine Organisation geben. Wir müssen uns organisieren und das so schnell wie nur möglich. Natürlich kann in fünf Minuten der Strom wieder kommen und wir lachen dann über das, was jetzt hier geschieht, aber«, er machte eine dramaturgisch sehr ansprechende Pause, »aber was ist, wenn der Strom auch in fünf Monaten noch nicht wieder da ist?«
Empörte Zwischenrufe im Saal.
»Keiner weiß doch, was geschehen ist und keiner vermag die Zukunft vorauszusagen! Hätte euch vor zwei Tagen jemand prophezeit, dass wir heute alle hier zusammen sind und vor allem, warum wir hier zusammen sind, jeder von uns hätte den Rufer in die Klapsmühle gesteckt. Oder etwa nicht?«
Verlegenheit und Zustimmung.
»Komm, lass mich auch mal.« Es war Eugen Nussberger, der Eisele vom Tisch winkte. Sofort war es im Saal mucksmäuschenstill. Wenn Nussberger mehr als seinen Husten von sich zu geben hatte, das wusste jeder, war es etwas wirklich Wichtiges. Es war ein Wunder, dass der Mann noch lebte. Er rieb sich den Hals und nahm kurz die Zigarre aus dem Mund. »Wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden wir es alle in einigen Tagen bitter bereuen!« In seinen Augen schimmerte es feucht. Er dachte an seine Schwester, die ein Leben lang um ihn gewesen war. Jetzt war er allein. Die Katastrophe hatte ihn einsam gemacht. »Wir brauchen so etwas wie einen Gemeinderat. Und die sollen dann alles organisieren. Wir müssen essen und trinken und wir müssen uns schützen, so
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