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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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angelegte Beete Nussbergers ganzer Stolz waren. Er zertrampelte zarte Kohlrabipflänzchen und die gerade keimende Bohnensaat. Als er um die Hausecke bog, blieb er wie angewurzelt stehen.
    Adelheid und Eugen Nussberger, Geschwisterpaar aus Wellendingen, beide Rentner, er Kettenraucher, sie gelegentliche Asthmatikerin, mit einem beruhigenden Guthaben auf ihrer Hausbank sowie recht klaren Meinungen und Ansichten zu Politik, Nachbarschaft und den aktuellen Ereignissen, hingen, geschwisterlich vereint mit auf den Rücken gebundenen Händen und einem fingerdicken Seil um den Hals, an einem uralten Apfelbaum. Unter Adelheid Nussbergers Nase trocknete Blut. Sie hingen an dem starken, waagerecht gewachsenen Ast, an dem sie als Kinder so gern geschaukelt hatten.
    »Schnell! Hilf mir! Er lebt noch!«
    Bubi umklammerte Nussbergers Beine und versuchte, den bewusst losen Körper anzuheben. Es gelang ihm auch, aber sollte Kiefer nicht bald handeln, wäre es nur eine Frage weniger Minuten, bis Bubis Knie unter dem Gewicht nachgeben würden.
    »Los … jetzt … mach schon!«
    Endlich gab sich Kiefer einen Ruck. Er zog sein Taschenmesser hervor und ging zu dem Apfelbaum.

37
    07:32 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation
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    Aleksandr Glück betrachtete seine Schwester. In der Nacht hatte sie es sich auf dem Boden neben seinem Bett bequem gemacht. Zwar standen genügend Betten auf der Station, aber in jedem einzelnen von ihnen lag eine Leiche.
    Stiller und Beck, Arzt und Polizist, hatten noch lange miteinander geredet und waren erst nach dem dritten Kaffee und vielen fruchtlosen Vermutungen über das Warum und das Wohin auf der Eckbank im Aufenthaltsraum der Intensivstation eingeschlafen. Das kleine Feuer im Spülbecken war niedergebrannt und überall roch es – statt wie üblich nach Desinfektionsmitteln und Krankheit – nach Rauch, Kaffee und Tod.
    Eva Seger atmete tief und regelmäßig. Sie schlief die Angst des letzten Tages weg, sie sammelte neue Kraft, Kraft, die sie dringend brauchte. Kein Monitoralarm konnte sie mehr wecken und es gab keine Patienten mehr, um die sie sich sorgen musste. Keine, bis auf Glück.
    Mit dem biologischen Desinteresse eines alten und kranken Mannes betrachtete er die junge Frau. Er mochte ihr schönes Gesicht und im Schlaf entspannte sie sich endlich. Die steile Sorgenfalte war von ihrer Stirn verschwunden. Aleksandr Glück spürte, dass seine Krankenschwester auch die Sorge um ihn bald los sein würde. Das Fehlen der Medikamente, die bisher als kontinuierlicher Odem das Leben in ihm gehalten hatten, schwächte ihn zusehends. Zwar hatte Eva immer wieder die Infusionen erneuert, die seine Nahrung ersetzen sollten, aber sein Herz und die Lungen waren schwach und würden – Gewissheit im Angesicht des Scharfrichters – nicht mehr lange funktionieren. Er sah zum Fenster hinaus, wo Donaueschingen langsam aus dem Morgendunst auftauchte. In der Nacht hatte es an mehreren Stellen gebrannt, Schüsse waren zu hören gewesen, aber keine Sirenen, keine künstlichen Lichter über der Stadt.
    Bevor sie einschlief, hatte sie ihm noch von den Männern erzählt, die gleich nebenan in einem Operationssaal eingesperrt waren. Und von Hans hatte sie sehr lange gesprochen. Dann hatte sie versucht, ihn zu trösten. Seine Frau würde heute sicher kommen.
    Er dachte ununterbrochen an sie, an Olga.
    Ihre Wohnung lag im sogenannten Russenviertel Donaueschingens, am gegenüberliegenden Ende der Stadt. Hier lebten, in anonymen Mietskasernen, viele deutschstämmige Einwanderer. Mit dem Bus war sie in zwölf Minuten am Krankenhaus, aber jetzt, mit ihren schmerzenden Hüften, die ihr jeden Schritt zur Qual machten, zu Fuß durch eine Stadt, die mit dem bekannten Gesicht Donaueschingens nicht mehr viel gemein hatte, jetzt würde sie wohl nicht mehr kommen können.
    Als er sie daheim in Preobrazhenka in jenem Mai zum ersten Mal gesehen hatte, war sie das schönste Mädchen weit und breit. Das war jetzt fünfundfünfzig Jahre her, fast auf den Tag genau. Sie trug damals über dem fahlen Kleid eine Schürze mit bunten Stickereien und ein Kopftuch, das ihr weit auf den Rücken reichte.
    »Olga«, flüsterte Glück und beobachtete einige Schwalben, die die Klinik umkreisten und Insekten jagten. Olga war an seiner Seite alt geworden, zwei Söhne hatten ihre schmale Taille geweitet und weiße Streifen über ihren Bauch geworfen. Aber nichts hatte den Reiz, den sie auf ihn ausübte, schwächen können – im Gegenteil. Sie

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