Rattentanz
Natürlich, jeder kann sich allein auf den Weg machen und zusehen, wie er zurecht kommt. Wir können uns meinetwegen auch straßenweise organisieren oder als Großfamilien. Aber wie auch immer, es wird schiefgehen. Vielleicht ist es uns allen noch nicht vollkommen bewusst, aber das hier ist kein Spiel! Das scheint auch keine Angelegenheit von einigen wenigen Tagen zu werden. Natürlich, wenn ich mich irre – auch gut, sehr gut sogar. Aber wenn ich mich nicht völlig täusche, müssen wir uns vorerst auf ein Leben wie im Mittelalter gefasst machen.«
Aus dem Saal kam vereinzeltes Murren.
»Ich verstehe die ganze Aufregung nicht.« Lisa Sigg erhob sich. Die Vierunddreißigjährige, Ehefrau von Uwe Sigg, schüttelte den Kopf.
»Wir haben Vorräte, die reichen locker zwei oder drei Wochen und bis dahin wird die Regierung ja wohl irgendwas gemacht haben, oder?« Sie sah in die Runde.
Einige nickten ihr zu, die meisten aber schwiegen oder schüttelten den Kopf.
»Ihr habt vielleicht Vorräte, die so lange reichen. Aber was ist mit denen, die keinen Garten hinter dem Haus haben, die keine Hühner halten, so wie ihr?« Bea Baumgärtner, Vorsitzende der Wellendinger Landfrauen, war aufgestanden. Sie war klein und untersetzt, mit leuch tenden, intelligenten Augen und obwohl ihre Haare bereits graue Strähnen zeigten, hätte keiner, der sie nicht kannte, ihre dreiundfünfzig Jahre und die drei Kinder erraten. »Nicht jeder von uns hat es so gut wie ihr, Lisa. Nicht jeder hat viele Verwandte im Ort, auf die er bauen kann. Was wird mit den Alten, was mit denen, die krank sind oder werden, was mit denen, die, wie Lea Seger, plötzlich ohne ihre Eltern dastehen? Wer kümmert sich um den einzigen Überlebenden des Flugzeugabsturzes?«
Hildegund Teufel hob ihren Stock. »Wenn Egoismus die Zukunft bestimmt, werden wir große Probleme bekommen. Bisher war es bei uns so, dass man einander geholfen hat, dass wir für einander da wa ren, wenn jemand in Not geriet.«
»Bisher hatten wir aber auch genug!«, rief Berthold Winterhalder, der Wirt. »Es ist ja wohl ein Unterschied, ob man von dem gibt, was man selbst genug hat oder ob man etwas teilen soll, was man für das eigene Überleben braucht.«
»Du hast vielleicht genug Kartoffeln in deinem Keller liegen. Aber kannst du sie auch rund um die Uhr beschützen?« Frieder Faust, der sich eigentlich vorgenommen hatte, den Mund zu halten, konnte nicht länger still sein. »Kannst du deine vollen Vorratskeller beschützen? Kannst du allein mit deiner Frau das Grundwasser sauber halten? Da oben«, Faust zeigte durch das Fenster aufs Hardt, »da liegen immer noch Dutzende Leichen und faulen bald vor sich hin. Im Augenblick bist du gesund, aber was wollt ihr machen, wenn du dir ein Bein brichst? Und was machst du, wenn deine Vorräte irgendwann verbraucht sind? Was dann?«
Fausts Einwurf erntete Applaus.
»Das ist der Kern des Problems!« Roland Basler, der noch immer auf dem Tisch stand, breitete erneut die Arme aus. »Allein sind wir nichts! Auf längere Sicht gesehen können wir nur gemeinsam überleben. Denn es geht um unser aller Überleben, so dramatisch sich das auch anhören mag. Dies hier ist kein Spiel und vielleicht auch nicht nur ein kurzes Intermezzo. Die Situation, die wir jetzt haben, kann unsere Zukunft sein. Wir sind an ein Leben der Versicherungen gewöhnt. Gegen jede Eventualität haben wir irgendwelche Versicherun gen, wir haben Gesetze und Regeln. Wenn einer wie du zum Beispiel«, er zeigte auf Uwe Sigg, »arbeitslos wurde, bekam er Geld aus einer Arbeitslosenversicherung. Die Alten bekommen ihre Rente und die Kranken einen Arzt und Medikamente. Aber was ist eine Versicherung denn anderes als ein Hilfsgarant? Und all die Gesetze, über die wir uns so oft ärgerten, das waren die Straßenkarten für unser Zusam menleben. Es war klar festgelegt, wer beispielsweise schuldig ist und welche Konsequenzen daraus für den Schuldigen erwuchsen. Nur für dieses Desaster«, er zeigte auf die toten Lampen im Saal, »nur hierfür gibt es niemanden, den wir zur Rechenschaft ziehen könnten. Und wir haben auch keine Versicherung für diesen Fall. Aber«, Basler senkte die Stimme, »wenn wir unsere Versicherung werden, wenn wir vorbehaltlos einander vertrauen können und uns helfen, können wir vielleicht mit einem blauen Auge davonkommen. Adelheid Nussberger hatte dieses Glück nicht und was aus Georg Sattler wird …« Er zuckte mit den breiten Schultern. »Aber ohne die
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