Rattentanz
allein.
Thomas setzte sich, kurz orientierungslos, auf, dann erinnerte er sich. Er erinnerte sich an den Aufzug, die Dunkelheit und die Thermosflasche. Melissentee! Seine Kehle war staubtrocken, aber er wagte es nicht, nach der irgendwo am Boden liegenden Flasche zu tasten. Er zog sich an der quer an den Wänden verlaufenden Metallstange hoch und lauschte, nach innen und nach außen.
Stille.
»Gehen wir.« Joachim Beck trat durch die Tür. Aber Eva zögerte.
»Was wird aus ihm?«, fragte sie und zeigte auf Ritter. Sie hatte an seinem Handgelenk einen unregelmäßigen, sehr schwachen Puls ertastet.
»Jetzt ist es aber genug!« Beck war kurz davor, zu explodieren. »Sie wollten, dass wir noch einmal zurückkehren und die drei freilassen. Und, haben wir das getan?«
Eva nickte.
»Also, das war es dann. Die Tür steht offen und wenn er gehen will, kann er das jetzt jederzeit tun. Ich habe Ihnen Ihre Bitte erfüllt, Eva, der Rest ist nicht mehr meine Sache.«
»Aber die Wunde an seinem Bein.«
»Die habe ich ihm zugefügt als er versuchte, mich zu ermorden. Wie meine Kollegen.« Er zeigte auf den Verband an seiner Hand und das verquollene Auge. »Ich hätte Lust, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen, aber das wäre viel zu gnädig. Vielleicht hat er ja Glück und erholt sich wieder. Vielleicht kommt auch der Alte zurück und hilft seinem Freund, wenn ich mir das bei diesem Pack auch nicht vorstellen kann. Machen Sie, was Sie wollen. Ich gehe jetzt.« Er steckte die Pistole in seinen Gürtel und drehte sich um.
»Warten Sie!« Eva rannte ihm nach. »Danke, dass Sie noch einmal mit mir hierher zurückgekommen sind.«
»Schon gut«, knurrte Beck.
»Jetzt bleibt nur noch eins.«
»Was denn nun schon wieder?« Joachim Beck verzog die Mundwin kel. Er war mit seiner Geduld am Ende. »Man könnte fast meinen, Sie wollen hier gar nicht weg!«
»Doch. Ich will weg. Aber nicht, bevor ich weiß, wie es Glücks geht.« Sie standen auf dem Flur vor der Tür zur Intensivstation. »Bitte sehen Sie nach. Ich warte hier.«
Beck wusste inzwischen, dass gegen Evas Willen kein Kraut gewach sen war. Sie würde das Haus erst verlassen, wenn er sich davon überzeugt hatte, dass da drin alles in Ordnung war. Er wollte zu einer Erwiderung ansetzen, holte aber nur tief Luft und nickte. Wozu Zeit vergeuden?
Er stieß die schwere Tür zur Station auf und steuerte das Zimmer an, in dem sie Aleksandr Glück und dessen Frau zurückgelassen hatten. Eva wartete derweil im Flur und starrte an die Decke. Waren die beiden tot? Hatten sie leiden müssen? Sie wurde das Bild nicht mehr los, dass die Infusion, welche die Atmung lähmen sollte, vielleicht zu früh gewirkt hat te und beide bei vollem Bewusstsein erstickt waren oder dass die Do sierung zu niedrig war und Glück und seine Frau noch wach im Bett lagen.
Beck kam zurück. Er nahm Eva an der Hand und zog sie gegen ihren Willen durch die Tür und in Glücks Zimmer. Sofort schossen ihr Tränen in die Augen: Olga und Aleksandr Glück lagen eng aneinandergeschmiegt in Glücks schmalem Bett und hielten sich bei den Händen. Sie hatten die Augen geschlossen und waren tot, waren endlich bei ihren Söhnen.
»Sind Sie jetzt zufrieden?«
Beck hielt Eva im Arm. Sie nickte. Dann trat sie an das Bett der beiden und deckte sie zu. Schließlich öffnete sie ein Fenster.
»Jetzt können wir gehen.«
Ich spüre Gevatter Tod in unserer Nähe! Aber wehe, wenn er uns nicht findet! Dann wartet die Unendlichkeit auf uns und die Unend- lich keit wird in diesem dunklen, blechernen Kasten sein. Ouuhhh, jaulte Nummer drei, ihr könnt euch nicht vorstellen, wie unendlich die Un- end lichkeit ist! Nein, wir werden nicht verhungern, obwohl wir Hunger spüren. Wir werden trotz unseres Durstes niemals verdursten. Wir wer- den, so nahe am Wahnsinn, doch nicht verrückt. Hörst du ihn da drau ßen, von da, wo früher einmal die Welt war? Ich höre ihn! Ich lausche seiner sonoren Stimme, hihi, und seinem klackenden Pferdefuß. Hört ihr ihn auch? Er sucht nach uns, aber wenn wir so still sind, wird er uns niemals mehr finden. Hörst du, hörst du ihn, er ist da, so nah, so naaah.
Thomas tastete sich zur Fahrstuhltür. Tatsächlich, da draußen, irgendwo, redete jemand.
Nehmen wir doch einfach noch einmal unser Kännchen und veran stalten wir ein nettes kleines Todeskonzert!, schlug Nummer drei fröhlich vor.
Nein!, quiekte Nummer zwei. Wir werden uns still verhalten. Ich höre nichts da draußen, ich kann nichts
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