Rattentanz
hören. Ich will nichts hören. Nie mals. Ich will meine Ruhe und zwar sofort.
Und was ist, wenn da draußen Rettung ist?, dachte Thomas.
Sehr gut, lobte Nummer eins. Und weiter?
Dann muss ich mich bemerkbar machen.
Richtig.
Rettung, Rettung, Rettung! Vielleicht hat der Verrückte recht und es ist wirklich der Tod, der nach uns sucht. Oder eine Putzfrau, die hier nur schnell durchfegt und rums, ist die Tür wieder zu. Oder die Pfleger ste hen da und nehmen uns wieder mit in die Psychiatrie oder, oder …
Du musst rufen, Thomas.
Jaaa, rufe, rufe unser Ende herbei. Gepriesen sei der große Rufer, ge- lobet seine Stimme und bejubelt sein tapferer, bald geschundener Leib. Rufen wir alle, so laut wir nur können, auf dass Gevatter Tod uns nimmt und zwischen seinen knorrigen Händen zerbreche. Er soll langsam die Luft aus unseren Lungen pressen und sich aus unserem Gedärm ein Haarnetz flechten. Er soll uns die Zungen herausreißen und auf einem Haar auffädeln, er wird mit unseren Knochen und einem blank genag- ten Schädel kegeln und wir werden mit ihm verschmeeelzen.
Hör sofort damit auf! Meine Migräne kommt zurück!
Still jetzt!, knurrte Nummer eins.
Der Zorn in seiner Stimme ließ die anderen beiden augenblicklich verstummen. Und, wieder sanft und milde: Mach dich bemerkbar, Tho mas. Rufe, damit wir gefunden und befreit werden. Wie damals die Bis amratte. Rufe. Jetzt!
Thomas lauschte weiter an der Tür. Er konnte deutlich Worte hö ren, aber durfte er sie wirklich auf sich aufmerksam machen? Durfte er sein sicheres Versteck verraten? Wenn nun wirklich Gevatter Tod da draußen wandelte …
Er ist es!
… wenn tatsächlich die Pfleger nach ihm suchten, um ihn erneut anzuschnallen und mit Medikamenten Einsamkeit und Leere in ihn zu spritzen …
Sie sind es bestimmt!
… wenn nun …
Rufe!
»Hilfe«, flüsterte Thomas.
Er hatte Angst vor dem Klang seiner eigenen Stimme, Angst vor dem, was danach geschehen musste. Und irgendetwas würde geschehen.
Rufe lauter!
»Hilfe«, sagte Thomas, abgehackt und fremd.
Noch lauter! Los!
»HIIILFEEE!!!«, schrie er. Er schrie, so laut er nur konnte. Er zuckte vor dem Wort zurück in die Mitte der engen Kabine. Sein Fuß trat gegen die Thermosflasche, die zur Seite polterte.
Lärm, Lärm, Lärm, wir machen Lärm, Lärm, Lärm, sang Nummer drei fröhlich.
Noch einmal, Thomas. Ruf nach Hilfe und schlag gegen die Wand! Thomas hob wie in Trance die Faust, wollte der Aufforderung seiner Stimme nachkommen. Neiiin! Wenn du das tust, dann schreie ich! Lasst ihn! Rufe nur, rufe. Ich beschütze dich.
»Hilfe! HIIILFEEE!!!« Und er schlug so laut er nur konnte mit beiden Fäusten gegen die Wände des Fahrstuhls, er rief und schlug und trat mit den Füßen gegen die seit einem halben Leben verschlossene Tür.
Eva und Joachim Beck waren gerade im Begriff, das Treppenhaus zu verlassen, als sie Thomas’ Schreie hörten.
»Da! Es kommt doch aus den Aufzügen!« Beck kniete vor dem linken der drei Personenaufzüge nieder und lauschte.
»Hier ist es!« Er winkte Eva zu sich. Sie nickte. Beck sah sich um. Werkzeug, eine Brechstange, irgendetwas, womit er die Fahrstuhltür aufhebeln könnte.
»Hattet ihr Handwerker im Haus? Gibt es hier irgendwo eine Werkstatt?«
»Ja, natürlich. Unten im Keller!« Schon war sie auf den Beinen und rannte vor ihm her in das dunkle Untergeschoss. Die drei Werkstatt räume am Ende eines langen Flurs standen offen. Schnell hatte Beck gefunden, wonach er suchte: einen Hammer und ein Stemmeisen.
Zurück am Aufzug setzte er das Eisen in den Türspalt. Dann schlug er es vorsichtig tiefer. Hinter der Tür hörten sie eine Stimme wimmern und klagen: »Nein. Bitte nicht. Ich will doch noch nicht sterben.«
»Sie müssen nicht sterben!«, rief Eva, so laut sie konnte, aber Thomas hielt sich die Ohren zu und hörte sie nicht mehr. Nummer zwei stöhnte bei jedem Schlag gegen das Stemmeisen auf und Nummer drei klatschte im Takt dazu und freute sich auf ihr baldiges Ende. Da ist es! Das göttliche Licht des Todes!
Beck hatte es geschafft, die Tür einen winzigen Spalt weit zu öffnen. Ein schmaler Lichtkegel schwappte von oben her in Thomas’ zwischen Keller und Erdgeschoss festsitzendes Gefängnis. Thomas sank augenblicklich auf die Knie. Er faltete die Hände und betete stumm.
Gemeinsam hebelten Beck und Eva die Fahrstuhltür so weit auf, dass ein Mensch hindurchpasste.
»Kommen Sie!«, rief Beck und warf das Stemmeisen zur Seite. Tho mas zuckte bei
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