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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Thermosflasche etwa dreißig Zentimeter über dem Boden, sehen konnte er es nicht. Er hielt sie mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und dachte noch über das Gehörte nach, als Eva Seger und Joachim Beck das Krankenhaus erneut durch den offenen Haupteingang betraten. Sie gingen durch den Wartebereich und an den Aufzügen vorbei ins Treppenhaus.
    Gottes Wege sind unergründlich!, schrie plötzlich Nummer drei. Thomas schrak zusammen. Kommt, lasset uns zusammensitzen und bööööten …
    Thomas’ Finger zuckten. Die Flasche sprang ihm aus der Hand und polterte auf den Kabinenboden. Nummer zwei schrie sofort los: Iiiiiiiiiiiiiiiiiihhhhhhhhhhhhhh!
    Ruhe! Alle sofort ruhig sein!, donnerte Nummer eins, während Nummer drei mitten in seinem Gebet, in dem er eigentlich für Einigkeit in Thomas’ Kopf und die sofortige Durchtrennung der Stimmbänder einer gewissen anwesenden Stimme bitten wollte, innehielt und verschwand unter Wimmern zurück in sein nutzloses Versteck.
    IIIIIiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiihhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!!!
    Thomas hielt sich die Ohren zu und rollte über den Kabinenboden.
    »Nein! Bitte nicht! Hör auf, bitte hör auf! Ich werde es nie wieder tun! Niemals wieder, versprochen! Ich gebe dir mein Ehrenwo …«
    Er brach mitten im Satz ab und wurde ohnmächtig.
    »Haben Sie das gehört?« Eva kehrte auf dem Absatz zwischen erstem und zweitem Stockwerk um und rannte zu den Aufzugtüren. Zwei von ihnen waren fest verschlossen, eine dritte einen kleinen Spaltbreit aufgehebelt und leer. »Da hat doch jemand gerufen!«
    Beck kam ihr hinterher und hämmerte mit beiden Fäusten zuerst gegen die linke, dann gegen die mittlere Tür. Sie hielten den Atem an und lauschten.
    Nichts.
    »Sie haben es doch auch gehört?«
    »Hab ich«, antwortete Beck und klopfte erneut.
    »Vielleicht die hinteren Aufzüge? Die Lastenaufzüge.«
    Eva rannte aus dem Treppenhaus, bog zweimal links ab und erreichte die glänzenden Metalltüren der größeren Lastenaufzüge. Auch hier waren zwei Türen fest verschlossen, eine dritte stand offen, war aber mit einem Betttuch verhängt, darüber ein provisorisches Schild: Außer Betrieb!
    Joachim Beck riss das Laken zur Seite und sprang im selben Augen blick zur Seite: Anton Banholzer, der Hypochonder, der am gestrigen Vormittag im Beisein seiner überforderten Krankenschwester hier im Bett sitzend verstorben war, grinste ihn verquollen an. Aus dem rechten Mundwinkel hing seine Zunge. Auf ihr saß eine Fliege und putzte sich. Die Zunge sah aus, als hätte sich ein Künstler nicht zwischen Grün und Grau entscheiden können und schließlich beide Farben benutzt. Eine zweite Fliege leckte von der Flüssigkeit, die Banholzers Augäpfel ausschwitzten. Nach ihrem Mahl wollte sie bergeweise Eier in beiden Augen ablegen.
    Eva nahm Beck das Laken aus der Hand und brachte es wieder vor der halb offenen Tür an. Beck war kreidebleich und Übelkeit stieg in ihm auf.
    »Kommen Sie. Setzen Sie sich einen Moment hin.« Sie brachte ihn in den Wartebereich der Etage und Beck ließ sich in einen der abwaschbaren Sessel fallen. »Ich bin gleich zurück.«
    Eva hämmerte an die verschlossenen Türen der anderen beiden Lastenaufzüge, aber auch diesmal ohne Antwort. Thomas Bachmann lag anderthalb Etagen tiefer zusammengerollt in seiner kleinen Kabi ne und konnte dank Nummer zwei in diesem Augenblick nichts hö ren.
    »Nichts«, sagte sie und setzte sich zu Beck. Die Farbe kehrte langsam in dessen Gesicht zurück und er atmete tief durch.
    »Vielleicht noch ein übrig gebliebener Patient?«, mutmaßte Beck.
    Eva nickte. Es war gut möglich, dass noch Patienten im Haus waren, Menschen, die noch niemand abgeholt hatte, Menschen, die warteten.
    »Kommen Sie.« Beck erhob sich. »Lassen wir endlich die Typen frei und dann nichts wie weg. Es ist unheimlich hier.«
    Sie erreichten einen Stock höher den Flur zur Intensivstation und zu den Operationssälen. Beide sagten kein Wort, beide erlebten noch einmal die Bilder der vergangenen Nacht. Da war die halb offene Eingangstür zur Intensivstation, eines der oberen Fenster zerstört und an den Wänden Mehmets Einschussspuren deutlich zu erkennen. Am Boden lag ein Feuerlöscher.
    Beck ging voraus in den OP-Trakt. Zielsicher bog er zweimal ab, dann standen sie vor einer massiven, abgeschlossenen Tür, unter die Klinke war zusätzlich ein kleiner Wagen geschoben. Hinter dieser Tür warteten also Ritter, Fuchs und Mehmet.
    Beck legte einen Finger auf seine Lippen.

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