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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Hände in den ausgebeulten Manchesterhosen, war er um Stillers Schmuckstück herumgegangen und hatte dabei mit dem Kopf genickt. »Ist sogar noch ziemlich in Ordnung, wenn ich mich recht erinnere. Das Fahrrad, meine ich.«
    Sie waren zu einem alten Schuppen gegangen, in dem ein verrostetes Damenfahrrad mit geschwungenem Lenker und einem Einkaufs korb daran unter einer Plane stand. Die Reifen waren so platt wie eine Maus auf der mittleren Autobahnspur.
    »Eine Luftpumpe ist auch noch dran.«
    »Ich bringe es zurück«, sagte Stiller, »sobald sich alles wieder normalisiert hat. Versprochen. Hier«, er wollte dem Bauern eine Visitenkarte von sich geben, »meine Daten.« Aber der Bauer hatte abwehrend die Hände gehoben.
    »Sie behalten Ihr Kärtchen und das Fahrrad und ich Ihren nutzlosen Wagen.«
    »Wie bitte?! Mein Wagen ist dreißigtausend Euro wert!«
    »Wie mein Fahrrad.«
    »Dann geben Sie mir wenigstens Benzin, ich bezahle es natürlich«, log Stiller. Zwei Kreditkarten waren die einzigen Zahlungsmittel, die er bei sich trug.
    Aber der Bauer schüttelte ohnehin seinen wuchtigen Kopf. »Machen Sie, was Sie wollen«, und das Scheunentor schloss sich wieder. »Vielleicht finden Sie ja irgendwo ein paar Tropfen Benzin. Kann’s mir zwar nicht vorstellen, aber vielleicht haben Sie ja Glück. Sehen aus, als könnten Sie es gebrauchen – Glück, meine ich. Und natürlich Benzin. Wenn Sie sich’s doch noch anders überlegen, finden Sie mich hier«, und er ließ Stiller allein.
    War dies die Strafe für seine Feigheit?
    Er hatte es im halben Dorf probiert, aber niemand war bereit, dem kleinen fremden Mann mit den hervorstehenden Augen und den fettigen, in dünnen Strähnen am Kopf klebenden Haaren, ein paar Liter Benzin zu geben. Die meisten öffneten nicht einmal die Tür. Angst hatte sich über Nacht breitgemacht, Angst vor allem Fremden, vor Menschen, die nicht hierher gehörten. Und Stiller gehörte nicht hierher, er gehörte zu seiner schwangeren Frau nach Freiburg.
    Der Bauer mit den ausgebeulten Hosen empfing Stiller und dessen Autoschlüssel mit einem Lächeln. Wusste ich es doch!, schienen seine Augen zu sagen. Dann half er Stiller, beide Reifen aufzupumpen und sah ihm, als der sich mit quietschenden Rädern davonquälte, zufrieden nach.
    Es war bereits fast sechs Uhr am Abend, als er endlich Hinterzarten erreichte und damit den Scheitelpunkt seiner Fahrt. Gleich würde es ins Höllental hinabgehen, in Serpentinen zwischen eng stehenden Felsen hindurch Freiburg entgegen! Die zwanzig Kilometer von Rötenbach bis hierher hatten seinen Schritt aufgerieben und an Stillers zarten Handflächen zeigten sich erste Blasen. Aber von nun an ging es leichter. Bergab!
    Er zog noch einmal seinen kleinen Taschencomputer hervor, aber mittlerweile hielt sich seine Enttäuschung über das nutzlose Ding in Grenzen. Bald wäre er zu Hause. Bald. Er stieß sich ab und rollte die erste Kurve der breit ausgebauten Straße hinab. Vereinzelte Fußgänger kamen ihm entgegen, andere überholte er. Alle waren wie er unterwegs zu einem nur ihnen wichtigen Ziel, unterwegs zu anderen Menschen, auf der Suche nach Sicherheit. Stiller beachtete sie nicht. Er hatte Durst und die Beine taten ihm weh. Heute Nacht würde er am Ziel sein, dann war Zeit, sich auszuruhen. Vorher nicht.
    Das Fahrrad gewann an Fahrt. Der Wind blies ihm die nassen Haare aus der Stirn. Der Wald rückte näher und Stiller tauchte in die Schatten ein und ließ das Fahrrad rollen.
    Alles wird sich aufklären. Und alles wird wieder in Ordnung gebracht. Ordnung muss sein und wer, wenn nicht unsere Regierung, wird für Ordnung sorgen und die Welt wieder so hinbiegen, wie sie gefälligst sein sollte.
    Dann würde er mit dem Wagen seiner Frau und einem Kanister Benzin zurück nach Rötenbach fahren und dem Halsabschneider von einem Bauern das verrostete Fahrrad vor die Füße werfen und in seinen Sportwagen steigen. Genau solche Auswüchse waren es, die bekämpft werden mussten! Die Not eines anderen so schamlos auszunutzen, sollte bestraft werden. Vielleicht würde er den Bauern anzeigen. Man musste sich helfen, gerade in Notzeiten wie diesen!
    Als er um die nächste Kurve bog, passierte es!
    Ein kleines Militärfahrzeug blockierte seinen Weg. Eine Leitplanke war verbeult und am Boden lagen Scherben.
    Stiller versuchte, zu bremsen. Das Fahrrad quietschte, ein sehr kurzes Ruckeln – das waren die ganzen Reaktionen seines Gefährtes. Die abgenutzten Bremsbacken berührten kaum

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