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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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noch die Felgen und Stiller stieß nahezu ungebremst gegen den hinteren Teil des Autos. Sofort flogen die Türen des Wagens auf.
    Stiller schlitterte über die Straße. Winzige Steinchen bohrten sich durch die dünne Hose in seine Knie und die Handflächen. Sein Fahrrad klemmte mit verbogenem Vorderrad unter dem Militärfahrzeug. Als er schließlich am Straßenrand liegen blieb und sich umsah, standen zwei verschlafene Soldaten vor ihm, jeder mit einem Maschinengewehr in der Hand. Sie starrten ihn aus geröteten Augen an.
    Stiller erhob sich. Er blieb gebückt und mit hängenden Schultern am Straßenrand stehen, wie eine getretene Katze, die noch einen Moment verharrt und das Erlebte zuerst verarbeiten muss, bevor sie endlich die Flucht ergreift. Der unrasierte Mundwinkel des einen Soldaten zuckte. Er, kaum zwanzigjährig, hatte strohblondes Haar und einen Blick, der Stiller zwang, sich nach einem Fluchtweg umzusehen. Aber während auf der Innenseite der engen Kurve eine Felswand fast senkrecht in den Abendhimmel ragte, fiel das Gelände hinter der Leitplanke, an der Stiller wartete, steil in die Tiefe. Weit unter sich konnte er das hellgraue Band der Bundesstraße erkennen, die, aus dem Wald kommend, dort wieder auf gerader Linie Freiburg zueilte.
    Ronny, der mit den strohblonden Haaren, musterte Stiller. Er spuckte auf den Lauf seiner Waffe und polierte diesen mit einem Zipfel seiner Jacke.
    »Waidwund«, konstatierte er nach einem Blick auf Stillers blutende Knie.
    »Hä?« Sein Begleiter kratzte sich am Kopf. »Was für wund?«
    »Waidwund. Was soviel bedeutet wie«, er überlegte kurz auf der Suche nach der richtigen Erklärung, die sein Großvater, ein passionierter Jäger, ihm einmal gegeben hatte, »das Wild ist verletzt und wartet nur noch auf den Gnadenschuss.«
    »Ach so, sag es doch gleich.«
    »Willst du?«
    »Was?«
    »Na, ihm den Gnadenschuss verpassen!«
    Ulf schien zu überlegen. In Wirklichkeit aber verfiel er in einen kurzen Schlaf mit offenen Augen – Folge von zu viel Alkohol und Marihuana.
    »Aber vielleicht hat er auch eine faire Chance verdient, der Arme. Oder was meinst du?«
    »Was?!« Ulf fuhr zusammen.
    Als Ronny keine Antwort erhielt, hatte er ihm einfach den Gewehrkolben in die Seite gestoßen.
    »Du kannst später weiterträumen!«, schnauzte Ronny seinen Kameraden an. »Jetzt ist Jagdsaison, mein Guter. Jetzt treiben wir das Wild durch den Wald, mal sehen, wer es erlegt!« Aber als sie sich zu der Stelle umwandten, an der soeben noch Stiller gewartet hatte, war der verschwunden. Er hatte den kurzen Moment der Unaufmerksamkeit genutzt und nach dem, was an Gesprächsfetzen zu ihm herübergeweht kam, auch keine Sekunde länger gezögert, war unter der Leitplanke hindurchgekrochen und rutschte nun langsam den steilen Abhang hinunter. Er hatte bereits zwanzig Meter Abstand zwischen sich und die Straße gebracht, als über ihm plötzlich zwei Gesichter auf tauchten. Ronny riss ohne Zögern die Waffe an seine Wange und schickte Stiller eine kurze Maschinengewehrsalve in den Wald hinterher. Rechts und links von Stiller splitterte Holz.
    Er versteckte sich hinter einem Felsvorsprung. Sein Atem rasselte und aus seiner Nase tropfte Blut.
    Eine zweite Salve raste ihm nach, Erde spritzte neben ihm auf und er zog erschrocken die Beine an. Das hier kann das Ende sein, schoss es ihm durch den Kopf. Die Angst, die Angst um das, was ihm noch geblieben war, sein Leben, gab ihm den Mut, aufzuspringen und noch weiter nach unten zu rutschen.
    »Da ist er!«, schrie Ulf und freute sich. Er legte an und schoss.
    »Lass das.« Ronny drückte den Lauf von Ulfs Waffe nach unten.
    »Komm lieber mit.«
    Sie rannten zurück zu ihrem Wagen. Ronny packte den Reservekanister und schüttete Benzin in den Tank.
    »Den kriegen wir!« Mit lautem Heulen sprang der Motor an.
    Dr. Achim Stiller stürzte aus dem Wald auf die nächsttiefere Serpentine der Bundesstraße. Er sah zurück. Nichts. Alles schien ruhig. Er ging in die Hocke und stützte sich mit einer Hand auf dem Asphalt ab. Das Atmen fiel ihm schwer und seine Kleider hingen in schmutzigen Fetzen von seinem Körper. Er suchte mit nikotingelben Fingern nach Zigaretten, hatte sie aber im Wald verloren. »Verrückt«, flüsterte er. »Alle sind verrückt geworden.«
    In diesem Moment kamen Ronny und Ulf um die Kurve. Ronny trat die Bremse durch und brachte den Wagen zum Stehen, die Räder zeichneten vier schwarze Linien auf den Asphalt. Stiller sprang zur Seite. Hatte

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