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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Werbung heraus. Hinter sich hörte er Zweige knacken und die Flüche eines Mannes. Er sprang aus seinem Versteck, weiter bergan, weiter, immer nur fort. Seine Lungen brannten tief in seiner Brust und die verletzten Fußsohlen sammelten Krankheitserreger vom feuchten Waldboden auf.
    »Da ist er!«, hörte er Ronnys Schrei, dann brachten Schüsse die Amsel zum Schweigen. Moos und Zweige spritzten rechts von ihm durch die Luft und er wich nach links aus. Aber auch da splitterte Holz. Auf allen vieren schleppte er sich einen steilen Hang hinauf. Ein halb ausgetrocknetes Bachbett war sein Weg, Felsblöcke und Geröll, Baumstämme und glitschige Erde.
    Ronny und Ulf kamen näher. Ab und zu konnten sie den nackten weißen Körper ihres Wildes sehen, sahen ihn stürzen und wieder aufstehen und erneut fallen und einige Meter den Hang hinabrutschen.
    Ulf lief wenige Meter vor seinem Kameraden und verdeckte dem so das Schussfeld.
    »Aus dem Weg!«, schrie Ronny. Er war erschöpft und sah sich schon als Verlierer, sollte Ulf seinen Vorteil ausnutzen.
    »Vergiss es!«, rief der zurück. Er fühlte sich stark und das Fieber dieser Jagd hatte ihn gepackt. Da vorn lief er, der große König der Wälder, und er allein, er, Ulf Wehner, würde sich die Trophäe holen! Es war sein erster Jagdausflug und die Waffe in seiner Hand gab ihm Stärke und Macht, Ronny fiel langsam, aber sicher zurück. Der Sieg war sein!
    Ronny konnte nicht mehr. Er blieb stehen und hielt sich an einem Baum fest. Wo nahm der andere nur die Kraft her? Alkohol und Marihuana hämmerten in seinen Schläfen, die Beine fühlten sich schwer an und schmerzten. Aber wenn, dann stand nur ihm der Sieg zu! Er war Ulfs Führer und der Sieg gehörte immer dem Führer, der Sieg, der Sieg, der »Siiiieeeeg!!!«, schrie er und schoss aus dem Hüftgelenk. Ulf riss mitten im Lauf die Arme plötzlich in die Höhe und ließ sein Gewehr fallen. Aus seiner Brust fetzten drei durch den Rücken eingedrungene Projektile Teile des Brustkorbes heraus. Er knickte in der Mitte ein wie ein zusammengeschlagenes Buch und fiel mit dem Gesicht in eine Schlammpfütze.
    Zwanzig Sekunden später war Ronny bei ihm, über ihm, hatte ihn überholt.
    »Mein ist der Sieg.«
    Stiller hatte im Verlauf des Bachbettes inzwischen einen Geröllhaufen erreicht. Der bestand aus einem Berg kindskopfgroßer Steinbrocken, scharfkantig und spitz. Stiller fiel in die kleine, mit Wasser gefüllte Mulde dahinter. Das eiskalte Wasser kühlte seinen überhitzten Körper. Hinter sich, von unten, den Weg herauf, den er gerade gekommen war, hörte er seinen Verfolger. Äste brachen und ein unter Ronnys Fuß abrutschender Stein polterte zu Tal. Das Geräusch des rollenden Steines polterte durch Stillers Körper – bum – stieß der Brocken gegen einen Baum – bum – rollte er über einen Fels und sprang in die Luft. Rums, traf er wieder auf den Boden, platsch, spritzte Wasser auf und der Brocken rollte weiter. Immer schneller, immer tödlicher, ein Geschoss.
    Ein Geschoss!
    Stiller sah sich um. Er konnte Ronnys Atem schon hören, hörte, wie der sich, nur noch wenige Meter entfernt, mit dem bereiten Gewehr näherte. Stiller packte einen Felsbrocken, zerschnitt sich an dessen scharfer Bruchkante die Hände, stand auf und …
    … und wie einen irren Albtraum sah Ronny sein Wild vor sich aus dem Boden schießen. Von Stillers unnatürlich weißem Körper tropften Schlamm und Wasser, grüne Moosfäden und Flechten klebten in seinem Haar. Er hatte riesige, schneeweiße Augäpfel, stand nackt auf dünnen Beinen und hielt in den muskellosen, faserigen Händen einen Felsbrocken über seinen Kopf. Ronnys Opfer schrie, er konnte deutlich braune Zähne und eine rote Zunge sehen. Dann hörte er auch den Schrei. Aber es war nicht der Schrei, den er sich vorgestellt hatte. Es war nicht der Todesruf eines sterbenden Tieres, es war nicht das Winseln und Betteln eines Unterlegenen. Dieser Schrei war Hass, er war Wut und Zorn und – und dies war das wahrhaft Schreckliche – dieser Schrei war Gegenwehr.
    Der Felsbrocken traf Ronny an der rechten Schulter. Der schwankte, suchte mit dem linken Fuß nach einem Halt und rutschte schließlich aus. Da kam auch schon der zweite Brocken. Dieser zerschmetterte sein Hüftgelenk und einen Teil des Beckens. Er versuchte noch, die Waffe in Anschlag zu bringen, als der dritte, der größte Brocken bisher, sein Ziel genau zwischen Ronnys Augen fand. Es knirschte, etwas zerbrach und er erschlaffte –

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