Rattentanz
Konsequenz nach Frieders Absage, dass der nachrückte, der das nächstbeste Ergebnis erzielt hatte?
Trotzdem hinterließen Baslers offensichtliche Politikerambitionen bei den anderen ein unangenehmes Gefühl. Sie waren hier, um vorübergehend ein paar, für die Gemeinschaft im Dorf wichtige, vielleicht sogar existenzielle Dinge zu regeln, nicht, um Karrieren zu beginnen.
»Also, wenn das nun geklärt ist, können wir jetzt endlich anfangen?« Faust schenkte sich nach, dann blickte er in die Runde. »Was muss – neben deinem Massengrab, Christoph – als Nächstes angepackt werden?«
»Unsere Sicherheit!«
»Trinkwasser!«
»Hilfe in Albickers Stall!«
»Wir brauchen einen Arzt!«
»Halt, halt, halt!« Faust hob beide Hände und brachte so die anderen zum Schweigen. »Das bringt nichts, wenn wir alle durcheinanderreden.«
»Richtig«, fuhr Basler fort, nahm Zettel und Stift und schob beides Bea Baumgärtner hin. »Jetzt noch einmal von vorn und bitte einer nach dem anderen. Und wenn wir damit fertig sind, können wir in Ruhe Beas Notizen durchgehen und entscheiden, was als Nächstes zu erledigen ist. Einverstanden?«
Da keiner widersprach, wurde es so gemacht.
Hildegund Teufel fand, dass die Organisation der Arbeiten in Albickers Stall oberste Priorität genießen sollte. »Wir wissen nicht, wann es wieder etwas zu kaufen geben wird, wann die Banken wieder öffnen. Schließlich brauchen wir Geld, um einzukaufen. Und wenn nicht alle mitanpacken, werden die vierzig Tiere kaum die nächsten Tage überleben. Bei zweien, die nicht ordentlich abgemolken wurden, haben sich bereits die Euter entzündet.«
»Ich finde, nach dem, was heute Morgen mit Adelheid und Eugen Nussberger geschehen ist, sollte unsere Sicherheit ganz oben stehen.«
Basler legte Bea die Hand auf den Arm. »Schreib: Sicherheit und mach ein dickes Ausrufezeichen dahinter.«
Faust bereitete das Trinkwasser Sorgen. »Vom Ehrenbach abgesehen haben wir nur noch zwei oder drei alte Brunnen im Dorf, über deren genauen Zustand keiner Bescheid weiß. Vom Wasserzustand ganz abgesehen.«
Bea schrieb »Trinkwasser«.
»Außerdem sollten wir feststellen«, fuhr Faust fort, »was wir an Nahrungsmitteln im Dorf haben und anschließend deren Verteilung organisieren.«
»Du meinst, wir sollen alle unsere Vorratsschränke öffnen?« Basler war überrascht.
»Natürlich, oder willst du etwa die bestrafen, die vielleicht erst gestern oder heute einkaufen wollten und diejenigen mit einem großen Vorrat belohnen, die das Glück hatten, ihre Einkäufe schon vor zwei Tagen erledigt zu haben?«
»Das klingt einleuchtend.« Die alte Teufel nickte. »Aber das wird Ärger geben.«
»Dafür wurden wir gewählt.«
»Zum Ärgermachen?«, fragte Basler.
»Nein, zum Organisieren. Und zwar im Sinne der Masse, nicht des Einzelnen.«
»Klingt jetzt doch verdammt nach Kommunismus«, warf Christoph Eisele ein. Faust zuckte mit den Schultern. »Mir egal, nach was es klingt. Aber wenn wir unsere Sache richtig machen wollen, müssen jetzt eben ein paar Tage die ganzen Einzelinteressen zurückstehen. Halt solange, bis alles wieder wie gewohnt funktioniert.«
Es herrschte einige Sekunden Schweigen. Schließlich sagte Eisele:
»Aber wir leben nun mal in einer Gesellschaft, die …«
»Ich persönlich finde, da …«, unterbrach ihn Roland Basler.
»Jetzt lass den Jungen ausreden!« Hildegund Teufels Augen funkelten. Basler brach mitten im Satz ab. Die ehemalige Haushälterin der Pfarrei drohte ihm mit dem Stock. »Du willst doch auch, dass wir dich zu Ende sprechen lassen oder nicht?« Und zu Eisele: »Was wolltest du uns über unsere Gesellschaft erzählen, mein Junge? Komm, red weiter.«
»Also, was ich sagen wollte, ist«, begann Eisele und suchte einen Moment nach dem verloren gegangenen Faden, »unsere Gesellschaft. Wir leben in einer Gesellschaft, die permanent individuelle Wünsche und Begierden erzeugt, die anschließend befriedigt werden wollen. Ganz bewusst erzeugt, denn darauf beruht die ganze Ökonomie unserer Zeit. Für die Masse, mich eingeschlossen, ist das tägliche Überleben eine Selbstverständlichkeit und die Erfüllung irgendwelcher fragwürdigen, von Werbestrategen erzeugten Träume, zum Lebenszweck geworden. Das, was du gerade gesagt hast, Frieder, bedeutet nichts anderes, als dass jeder von uns ab jetzt ein völlig anderes Leben führen soll. Ich glaube, die wenigsten können sich solch ein Leben überhaupt vorstellen, geschweige denn
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