Rattentanz
Kriegsindustrie saß, aber das hier – das gestern und das heute – es erinnert mich an Krieg. An den Beginn eines Krieges vielleicht. Und im Krieg«, sie kratzte sich an der Nase, »im Krieg tun Menschen Dinge, zu denen sie sonst niemals fähig wären. Im Positiven wie im Negativen. Wenn ich mich nicht irre, müssen wir uns nicht nur darauf einstellen, dass diese Katastrophe, so wie bei dir oder beim Eisele, gute Eigenschaften hervorspült, nein, nein, Frieder, lass mich zu Ende sprechen … es kann gut möglich sein, dass der eine oder andere die Situation zu seinen Gunsten ausnutzen wird.«
»Du meinst, wie …«
»Ich meine gar nichts. Aber vielleicht ist es ratsam, vorsichtig zu sein und nicht blind darauf zu vertrauen, dass die Menschen hier morgen noch so sein werden wie sie vorgestern einmal waren. Ein bisschen Vorsicht kann auf jeden Fall nicht schaden, mein Junge. Glaub einer alten Frau, Vorsicht hat noch keinem geschadet.«
Noch während der Versammlung, um die Mittagszeit, hatten Jochen und Karola Schlesinger Wellendingen verlassen. Mit ihren drei Kindern und Freddy, einer fetten Perserkatze, waren sie erst im letzten Herbst nach Wellendingen gezogen. Ursprünglich kamen sie aus Oberbayern, wohin sie jetzt zurückwollten. Am frühen Abend schlich sich Enrico Müller davon. Der Siebzehnjährige verließ das Dorf im Wagen seiner Eltern. Neben ihm saß Nikola, Enricos erst fünfzehnjährige Freundin. Sie wollten nach Italien. Oder nach Indien. Hauptsache weg.
Roland Basler und seine Frau trugen Lebensmittel aus der Küche in den Keller.
Frederike bestand darauf, dass sie von allem immer eine Packung (mindestens) in Reserve hatten. In der Waschküche, neben dem Heizungskeller gelegen, in dem die von Bubi und Kiefer gefundenen Waffen lagerten, versteckten sie Zucker, Mehl, zwei Stück Butter, Reis und Nudeln, Kartoffeln, ein paar Bananen, Käse, eine Salami und eine Tüte Salz. »Sicher ist sicher«, sagte Basler. Auf der Waschmaschine lag eine Taschenlampe und beleuchtete die gierige Szenerie. Basler half seiner Frau, einen Berg Wäsche, scheinbar achtlos in die Ecke geworfen, so über den Vorräten zu drapieren, dass niemand auf die Idee käme, hier Lebensmittel zu vermuten. »Wer weiß schon, was denen noch alles einfällt! Vielleicht schlägt Eisele morgen Hausdurchsuchungen vor! Kommunistenquatsch!«
Zum Glück war er in den Rat gewählt worden. So hatte er wenigstens die Möglichkeit, wenn schon nicht alles so zu lenken wie er es gern hätte, so doch wenigstens rechtzeitig reagieren zu können. Und den anderen würde er die Flausen schon noch austreiben. Es gab schließlich nicht nur Faust und Eisele und die senile alte Teufel.
»Zum Teufel mit euch!«
Und Frederike Basler nickte dazu, so, wie es ihr Mann am liebsten sah.
50
19:14 Uhr, irgendwo auf dem Balkan
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Sechs lange Jahre hatten UN-Blauhelmsoldaten die verfeindeten Volksgruppen auf Distanz halten können, jetzt aber brach sich der jahrhundertealte und zuletzt erzwungen gebändigte Hass Bahn.
Die Region war ein Flickenteppich kleiner ethnischer Enklaven, besiedelt von oft nur einer Handvoll Familien, die sich nach dem vierjährigen Vertreibungskrieg Ende der Neunzigerjahre weigerten, die Heimat ihrer Eltern und Großeltern aufzugeben. Unter dem Schutz belgischer, deutscher, französischer und niederländischer UN-Soldaten kehrten sie zu ihren oft zerstörten Dörfern zurück. Die fremden Soldaten sicherten einen fragilen Frieden, der doch nur ein Luftholen zwischen zwei Kriegen war. Zu tief saß der gegenseitige Hass, zu schwerwiegend war, was die eine Volksgruppe der anderen angetan hatte, zu fremd die Religion des Nachbarn. Gegenseitig gaben sie sich die Schuld an dem, was mit dem Morgen des 23. Mai begonnen hatte.
Heute nun zog eine Horde von etwa vierhundert Männern und Frau en auf das kleine Dörfchen zu. Sie wollten die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen.
Die zweiunddreißig Blauhelmsoldaten, von ihren Kommandostellen abgeschnitten und seit gestern ohne Nahrung und Trinkwasser, räumten den Checkpoint zum Dorf ohne lang zu verhandeln. Die zwölf Familien des Dorfes – dreiundzwanzig Männer, einunddreißig Frauen und zweiundzwanzig Kinder – trieb man in dem schäbigen hölzernen Gotteshaus in der Ortsmitte zusammen und verriegelte alle Ausgänge. Das anschließende Feuer regelte all das, was die Vereinten Nationen und ihre Soldaten, was Politiker aus aller Welt und sieben Kriege in den letzten beiden Jahrhunderten nicht
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